Tessa Ensler glaubt an die Wahrheit – aber nicht als reale, sondern als juristische Größe.
Was zählt, ist „das Spiel der Gesetze“, und das, so viel steht für Tessa fest, „hat nichts mit Gefühlen zu tun“. Distanz, Parteilosigkeit und das Ausräumen von Zweifeln stehen deswegen in ihrer beruflichen Praxis an erster Stelle.
Diese Sicht auf die Welt zerbirst von einem Moment auf den anderen, als sie selbst Opfer eines sexuellen Übergriffs wird. Ein Kollege, mit dem sie sich gar eine gemeinsame Zukunft vorstellen konnte, vergewaltigt sie während eines Dates. Tessa stellt Strafanzeige und wechselt im Gerichtssaal die Seiten. Und nun erfährt sie, wie unzulänglich das Gesetz ist, wenn es um die Erfahrung von sexualisierter Gewalt geht.
Diese Tessa ist die Protagonistin von Prima Facie, einem Monolog-Stück, das die britisch-australische Dramatikerin Suzie Miller 2019 als wortgewaltige Anklage an das Rechtssystem verfasst hat. Packend legt sie den Fokus auf dessen blinden Fleck: dass sich Erfahrungen von sexualisierter Gewalt, die zur Lebenswirklichkeit jeder dritten Frau gehören, nicht in einem wesentlich von Männern geprägten Recht widerspiegeln.
Als ehemalige Strafverteidigerin hat Suzie Miller selbst regelmäßig mit Opfern sexueller Übergriffe gearbeitet. So kam sie nicht umhin, Parallelen in deren Zeug:innenaussagen zu entdecken: „Wenn es um jemanden ging, den das Opfer kannte, war alles gut, bis es das plötzlich nicht mehr war. Die Psyche brauchte eine Weile, um der Tatsache gerecht zu werden, dass man sich auf gefährlichem Territorium bewegt. Der Verstand sucht nach Wegen, die Situation umzuinterpretieren, obwohl sie in diesem Stadium schon wirklich gewalttätig ist. Und dann beschuldigt sich das Opfer dafür, nicht gewusst zu haben, was vor ihm lag, dafür, den Täter für vertrauenswürdig gehalten zu haben.“
Erschwerend hinzu kommt, dass die Traumatisierung, die mit diesen Erlebnissen einhergeht, häufig dafür sorgt, dass das Erlebte im Gedächtnis weit weggeschoben wird, bis es nur noch verschwommen, nicht „logisch“ erinnert wird. All dies zusammengenommen bewirkt, dass die Betroffenen das Erlebte zumeist nur inkonsistent und widersprüchlich darstellen können – und dabei erheblich an Glaubwürdigkeit einbüßen. Dies hat zur Folge, dass in Österreich beispielsweise gerade einmal 13 Prozent der angezeigten Vergewaltigungen auch gerichtlich verurteilt werden.
Diese Erkenntnisse, die Begegnungen mit den Opfern sexueller Übergriffe und die #me-too-Bewegung veranlassten Suzie Miller, die während ihrer juristischen Tätigkeit Szenisches Schreiben studierte, Prima Facie zu schreiben. Seit 2010 ist sie nur mehr als Dramatikerin und Drehbuchautorin tätig und befasst sich mit komplexen menschlichen Geschichten, in denen es um Ungerechtigkeit geht.
Prima Facie wurde 2019 im Griffin Theatre Sydney uraufgeführt, tourte 2021 durch Australien und gewann 2020 den Australian Writers’ Guild Award for Drama, 2020 den David Williamson Award for Outstanding Theatre Writing und 2020 den prestigeträchtigen Major Australian Writers’ Guild Award in allen Kategorien für Theater, Film und Fernsehen. Im Frühjahr 2022 fand die Europäische Erstaufführung unter großem Zuspruch von Publikum und Kritik am National Theatre in London statt. Die Österreichische Erstaufführung dieses aufwühlenden Monologs wird in der Regie von Peter Wittenberg am Landestheater Linz zu sehen sein.