Die Antwort auf diese Frage ist gar nicht so einfach – versammeln sich doch unter dem abstrakten Begriff der „Identität“ eine ganze Reihe unterschiedlicher Ausprägungen, die für eine Identität eben relevant und politisch umkämpft sind: Sexualität, Hautfarbe, Geschlecht, Kultur im weitesten Sinne – nur um einige der heißesten Eisen zu erwähnen, die im Zentrum der Debatte stehen und um die eben Identitätspolitik betrieben wird. Zu allem Überfluss verlaufen diese Debatten auch nicht streng entlang von Parteifarben, sondern entlang theoretischer, man könnte auch sagen: strategischer Zugänge.
Was ist damit gemeint? Die Autorin und Philosophin Nele Pollatschek gibt einen groben Überblick, indem sie die Lager in Universalisten und Team Identitätspolitik (kurz: Team IdPol) einteilt. Die beiden Gruppen eint, dass sie sich gegen Rassismus engagieren, für Queernes Partei ergreifen und Diskriminierung aller Art bekämpfen. Dabei berufen sich die Universalisten auf die Aufklärung. Auf Werte, die für alle gelten und so für eine sozial gerechte Welt sorgen sollen, da jene Regeln für alle gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen. Die liberale Rechtsordnung wäre ein solches Regelwerk. Sie kennt Minderheitenrechte ebenso wie die Gleichbehandlung vor dem Gesetz. Kulturelle Spezifika wären somit Fragen der Toleranz. Das Prinzip: Leben und leben lassen wird von den Universalisten großgeschrieben und soll möglichst große Bewegungsfreiheit garantieren. Wer welches Geschlecht hat, welche Hautfarbe oder welcher kulturellen Gruppe man sich angehörig fühlt, sollte im Verständnis der Universalisten keine entscheidende Rolle spielen.
Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend, vernünftig und wünschenswert. Doch der universalistische Blick hat Schwächen, die von Team IdPol adressiert werden. Denn egal was die Universalisten gerne hätten, so gerecht ist die Welt leider nicht. Frauen verdienen weniger als Männer – trotz gesetzlicher Gleichheit. Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund oder queeren sexuellen Identitäten werden anders behandelt als die weiße, heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft. Sie erleben Diskriminierung, die für die meisten eben nicht zum Alltag gehört. Die Führungsetagen der Konzerne sind alles andere als divers, sondern hauptsächlich männlich besetzt. Und auffallend ist auch, dass in der Popkultur viel Innovation entscheidend von BiPocs (also nicht-weiße Menschen) angestoßen wurde, diese davon aber verhältnismäßig wenig bis überhaupt nicht profitieren. Genres wie Techno, Reggae, Rap oder Drum & Bass gehen auf Communitys zurück, die nicht zu den Hauptprofiteuren zählen, sondern von der weißen Chefetage appropriiert und vereinnahmt wurden.
Was also tun? Die Universalisten stehen diesem Problem machtlos gegenüber. Sie müssen darauf hoffen, dass sich die Vernunft durchsetzt und Schwierigkeiten von selbst erledigt werden. „Das kann man machen, aber dann kann man eben nicht mehr beteuern, gegen Diskriminierung, kein Rassist und kein Sexist zu sein, denn das ist man dann halt, und so viel Ehrlichkeit muss sein. Oder man muss feststellen, dass es irgendwo offensichtlich doch ziemliche Diskriminierungsmechanismen gibt. Und dann muss man sich überlegen, was man dagegen zu tun gedenkt“, schreibt Nele Pollatschek. Team IdPol kennt hingegen ein ganzes Maßnahmenbündel, das in Stellung gebracht werden kann. Im Wesentlichen beruhen deren Strategien auf einer Mischung aus Anerkennung und Verbot. Diskriminierte Identitäten sollen aktiv sichtbar gemacht und ernstgenommen werden. Quoten werden ebenso befürwortet wie Theaterstücke und Filme, die BiPocs oder Protagonist:innen der LGBTQIA+ Gruppe ins Zentrum stellen und deren Geschichten erzählen. Auch die geschlechtssensible Sprachverwendung („Gendern“) beruht auf dem Ziel, ausgegrenzte Gruppen auch in der Sprache sichtbar zu machen. Gleichzeitig soll aber auch verhindert werden, dass sich die Mehrheitsgesellschaft die Errungenschaften und Anliegen erneut gegen den Willen der Betroffenen aneignet. Im Bereich der Kunst entfachte diese Forderung jüngst jene Debatten, welche letztlich die Freiheit der Kunst berühren und die teilweise erbittert geführt werden. Gemeint ist damit beispielsweise der Streit ums „Blackfacing“ – also die Darstellung schwarzer Personen von nicht-schwarzen Menschen. Aber auch die Frage, wer welches Geschlecht auf der Bühne spielen sollte, ob eine weiße Übersetzerin die Gedichte von Amanda Gorman übersetzen darf oder ob die Mitglieder einer weißen Reggaeband Rastalocken tragen dürften, fallen in diese Kategorie. Und an den genannten Beispielen wird bereits deutlich, dass manche Forderungen sinnvoll und nachvollziehbar (z. B. Blackfacing), manche wiederum schwerer zu verstehen sind.
Dies kann letztlich daran liegen, dass dem Team IdPol die (universellen) Kriterien fehlen, anhand derer überprüft werden kann, ob eine Maßnahme immer noch sinnvoll ist, oder ob sie eher zur Spaltung beiträgt, wo eigentlich schon weitgehend Konsens erreicht ist. Nele Pollatschek hierzu: „Team IdPol muss erklären, wie es nach all der Sichtbarmachung aus der Nummer wieder rauskommt, wie sich die Partikularinteressen bündeln lassen, wie man am Ende eben doch genau das erreicht, von dem sich die Universalisten gerne einreden, es wäre längst der Fall. Wer das nicht beantworten kann, bei dem liegt sonst nämlich der Verdacht nahe, dass es gar nicht um Gleichheit geht, nicht um Gerechtigkeit, sondern um Rechthaben, Selbstgerechtigkeit, schiere Lust an der Provokation oder um Rache oder Revanchismus, also darum, dass jetzt endlich mal die anderen diskriminiert werden sollen.“
Und was hat jenes Spannungsfeld nun mit dem Stück James Brown trug Lockenwickler von Yasmina Reza zu tun? Die Antwort lautet: Sehr viel! Denn die berühmte Komödienautorin fand sich unlängst selbst in eine identitätspolitische Debatte verwickelt. Yasmina Reza hat nämlich ihr Stück Anne-Marie die Schönheit dem Schauspieler André Marcon gewidmet und ihm auf den Leib geschrieben. Ein Mann also, der eine Frau spielen soll. Das Schauspielhaus Zürich verweigerte aber den Wunsch der Autorin. Eine Paraderolle für eine ältere Frau solle auch von einer älteren Frau gespielt werden. Es entbrannte ein Streit zwischen beiden Parteien, der nun insofern produktiv wurde, als dass eine Komödienautorin reagiert, wie man es von ihr erwarten kann – sie schreibt eine Komödie, die sich der Debatte annimmt. Dabei bearbeitet Yasmina Reza mit viel Humor jene Themen, die gerne mit erbittertem Ernst geführt werden.
Yasmina Reza stellt nämlich in ihrer Geschichte einen jungen Mann ins Zentrum, der fest davon überzeugt ist, die Sängerin Céline Dion zu sein. Die Eltern sind besorgt, bringen den Sohn sogar in die Psychiatrie. Dort bekommen sie aber nicht jene Hilfe, die sie sich erhofft hatten. Im Gegenteil: Die leitende Psychiaterin bietet Jacob Hutner einen geschützten Raum, in welchem er seine Identität ungestört ausleben soll. Und zu allem Überfluss lernt er in der Psychiatrie Philippe kennen. Ein Weißer, der sich für einen schwarzen Mann hält. Die beiden kommen sich näher und verwirren die Eltern vollends. Eine abwechslungsreiche und aberwitzige Geschichte nimmt ihren Lauf. Die Autorin schafft es dabei, eine berührende Geschichte über die Freiheit der selbstgewählten Lebensentwürfe ebenso zu erzählen, als auch die Grenzen mancher Identitätskonstruktion mit absurdem Humor offen zu legen. Ein tragisch-komisches Stück im besten Sinne, das nicht davor zurückschreckt, sich den großen Debatten zu widmen.