„Komm mit nach Varasdin! So lange noch die Rosen blüh’n,
Dort woll’n wir glücklich sein, wir beide ganz allein!
Du bist die schönste Fee von Debrecen bis Plattensee,
Drum möcht mit dir ich hin nach Varasdin!
Denn meine Leidenschaft brennt heißer noch als Gulaschsaft
Und in der Brust tanzt Herz mir Czárdás her und hin!
Komm mit nach Varasdin, solange noch die Rosen blüh’n,
Dort ist die ganze Welt noch rot, weiß, grün!“
Bei diesen Zeilen geht den Operettenfreund:innen das Herz auf. Zitiert doch dieser Text den Refrain einer der beliebtesten Nummern des heiteren Genres, die sich zu einem veritablen Schlager entwickelte. Zu finden ist dieses Schmuckstück der guten Laune in Emmerich Kálmáns 1924 am Theater an der Wien uraufgeführten Gräfin Mariza. Den Text zu dieser Operette steuerte dabei das langjährige, äußerst erfolgreiche Autorenduo Alfred Grünwald und Julius Brammer bei. In besagter Nummer macht der quirlige Buffo Koloman Zsupán der titelgebenden Gräfin auf deren Gut in der ungarischen Puszta den Hof und fordert sie eben auf, mit ihm in seine Heimatstadt Varasdin zu ziehen.
Miesepetrige Gegner:innen der Operette mögen sich freilich beim Lesen von Grünwalds und Brammers Versen in ihren Vorurteilen dieser Gattung gegenüber bestätigt fühlen: „Das ist ja vollkommener Nonsens! … Das ist zusammengedichtet nach dem Motto ‚Reim dich, oder ich fress dich‘! … Das strotzt vor oberflächlichen Klischees über Ungarn! …
Und überhaupt: Varasdin ist ganz und gar nicht der Inbegriff einer ungarischen Stadt! Sie mag zwar nominell eine Zeit lang zum Königreich Ungarn gehört haben, aber sowohl von ihrem Selbstverständnis her als auch aufgrund der Identität der meisten ihrer Einwohner:innen war sie immer kroatisch … also nix mit rot-weiß-grün … die Farbkombination blau-weiß-rot wäre hier viel angemessener!“
Diesen spaßbefreiten Operettenverachtern kann man jetzt zurufen: „Ihr mögt ja recht haben, mit euren Anmerkungen. Aber das, was ihr da kritisiert, das ist doch genau die besondere Qualität dieser Verse!“
Natürlich spielt der bewusste Text mit Klischees und natürlich ist es vielleicht etwas gewagt, wenn man „schönste Fee“ auf „Plattensee“ und „Leidenschaft“ auf „Gulaschsaft“ reimt. Aber seitdem ein Jacques Offenbach ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen Schöpfungen die Operette als eigene Gattung etabliert hat, gehört der absurde Nonsens zu diesem Genre wie eben Gulasch und Paprika zu Ungarn. Die Formulierungen und Reime mögen im Falle des Schlagers aus der Gräfin Mariza tatsächlich flach wie der Balaton anmuten. Fast scheint es so, dass sich die Librettisten Grünwald und Brammer selbst die Aufgabe gestellt hätten, möglichst viele Ungarn- Klischees in möglichst wenig Verse zu packen. Aber zu ihrer Ehrenrettung geschah dies nicht, um einer klischeebeladenen Oberflächlichkeit zu huldigen. Denn natürlich sollen diese Verse genau dadurch den Baron Zsupán, der sie in der Operette zum ersten Mal zum Besten gibt, charakterisieren. Dementsprechend zeichnet sich dieser Charakter durch eine große Lust am Fabulieren aus. Er ist zudem ein Mensch, der sein Herz sicher auf dem rechten Fleck hat, der aber vielleicht das eine oder andere Mal erst nachdenken sollte, bevor er den Mund aufmacht. Gleichwohl macht ihn diese unbe-kümmerte Spontanität allemal zu einem Sympathieträger. Und natürlich präsentiert er sich hier als leidenschaftlicher Ungar.
Die Häufung von rot-weiß-grünen Klischees, die Zsupán in diesem Schlager zum Besten gibt, hat aber dann auch noch tatsächlich eine tiefere Dimension. Denn auf den ersten Blick gerierte sich Gräfin Mariza als eine Operette der guten, alten Zeit, wenn es hier um die Liebesnöte des Adels geht, und wenn das Geschehen mit der ungarischen Puszta in einem malerischen Ambiente angesiedelt ist, das im Herrschaftsgebiet der Österreichisch-Ungarischen Monarchie liegt. Doch man muss sich bei Kálmáns Gräfin Mariza immer eines vor Augen halten: Diese Operette, die 1924 in Wien das Licht der Welt erblickte, wurde nach dem Ende der k. u. k. Doppelmonarchie und der Abschaffung des Adels uraufgeführt. Das heißt für das Wiener Publikum der Weltpremiere war Ungarn, das sich 1918 für selbstständig erklärt hatte, nicht mehr – wie Jahrhunderte lang zuvor – ein Teil des Habsburger Reiches, sondern „nur noch“ ein Nachbarland des geschrumpften Österreich. Ungarn war also nicht mehr integrativer Bestandteil einer Identität, die Österreichisches mit Ungarischem verband, sondern war zu einer fernen Erinnerung geworden. Und an was man sich dabei in Wien erinnerte, waren eben genau jene Klischees von Gulasch und Balaton, von denen Kálmáns Operettenschlager kündet. Dementsprechend vertonte Kálmán diese Verse auch nicht im Stile originär ungarischer Musik, sondern als frechen Jimmy, der damals als aus den USA importierter Modetanz der letzte Schrei war. Einzig ein paar an den traditionellen Csárdás gemahnende punktierte Noten und Synkopen, mit denen Kálmán den Jimmy würzt, lassen dabei noch eine musikalische Ahnung von Ungarn entstehen. Ansonsten macht aber Kálmán durch das Aufgreifen des Jimmys unmissverständlich klar, dass für ihn inzwischen auch die gute, alte Gattung der Operette in der Moderne angekommen ist, wo sie auch bis heute allemal hingehört!