Auch meine Mutter stellt sie mir. Immer dann, wenn sie vergessen hat, was ich ihr beim letzten Mal zur Antwort darauf gab. Und das geht nicht nur mir so, sondern vielen anderen Dramaturg*innen auch. Inzwischen scheint die Frage nach Funktion und Tätigkeit der Dramaturg*innen sogar so etwas wie ein Urban Myth geworden zu sein. Manche Dramaturg*innen stellen sich Nicht-Dramaturgen damit vor: Dass sie so oft gefragt würden, was Dramaturg*innen sind. Und in den meisten Fällen geht die Geschichte dann so weiter: Dass es nicht so leicht sei, darauf eine Antwort zu geben. Was insofern bemerkenswert ist, als Dramaturg*innen (unter anderem) als Vermittler komplizierter Sachverhalte gelten.
Ausgerechnet in der Darstellung der eigenen Kunst scheitern sie jedoch. Wie es scheint. Oft. Verschiedene Erklärungen kommen dafür in Betracht: 1. Dramaturgen können komplizierte Sachverhalte auch nicht besser vermitteln als andere Menschen. 2. Oder sie scheitern nur in der Selbstreflexion. (So wie ein Psychoanalytiker ja auch sich selber nicht analysieren kann. Apropos Psychoanalytiker: Was macht eigentlich ein Psychoanalytiker? Aber nein: Jedes Kind weiß, was ein Psychoanalytiker macht.) 3. Dramaturgen wollen gar nicht erklären, was sie machen, und machen darum einen solchen Zirkus um die Sache. Oder, schließlich und endlich: 4. Dramaturgen könnten zwar erklären, was sie machen. Doch um wirklich zu erklären, was sie machen, müssen sie so ins Detail gehen, dass sogar meine Mutter jedesmal bei dem Versuch, meine Erklärung bis zum Ende anzuhören, die Konzentration verliert.
In der vermutlich amüsantesten Version dieses Urban Myth beschrieb der Ex-Feuilletonist und (mittlerweile) Dramaturg Wolfgang Behrens im Mai 2019 auf der Website nachtkritik.de, wie ihm eines Tages Hilfe bei der Beschreibung seines neuen Berufes von unerwarteter Seite kam: Im Katalog eines Versandhauses (Mey & Edlich) wurde ein Anzug unter der Überschrift „Heute Dramaturg“ beworben. „Der Dramaturgen-Anzug verdanke seinen Namen seiner schlichten Eleganz, dem dezent extrovertierten silbrigen Glanz und dem ungewöhnlichen Material Cord“. Und weiter, laut Versandhauskatalog: „Der Dramaturg spielt nicht, er singt nicht, er ist nicht der Autor.“ Das ist durchaus zutreffend. „Er ist Vermittler des Texts und Anwalt der Inszenierung – er begleitet die Proben aus erster Reihe, kontrolliert, ob die Regie verständlich und konsequent und das Spiel unmissverständlich ist. Und er sorgt dafür, dass das Publikum mit Hintergrundinformationen versorgt wird.“
Welcher Teufel immer hier die Werbetexter geritten haben mag: unterdessen lässt sich zwar der „Dramaturgen-Anzug“ noch im Angebot des Versand-Kaufhauses finden, nicht jedoch mehr die ausführliche – und großenteils zutreffende – Berufsbeschreibung. Warum ich diese ganze Geschichte hier erzähle: Wenn Sie bis hierher gelesen haben, dann haben Sie offenbar ein tieferes Interesse, zu erfahren, was Dramaturg*innen machen und was sie eigentlich sind.
Das größte Problem bei der Beantwortung der Frage scheint, dass in den meisten Fällen, wenn sie gestellt wird, nicht die Zeit und nicht der Raum sind, eine (wenigstens den Antwort Gebenden) befriedigende Antwort zu erteilen. Also auf Premierenfeiern, bei Stückeinführungen oder nach dem Sendeschluss im Fernsehen (Moment mal: gibt‘s den überhaupt noch), also jedenfalls wenn Dramaturgenmütter aufwachen, um ihre Dramaturgentöchter oder Dramaturgensöhne ins Bett zu schicken. Ich gebe zu: nicht bei allen hier angeführten Gelegenheiten, bei denen man gefragt wird, was eigentlich Dramaturgen machen, wurde diese Frage ohne Unterton gestellt.
Und manchmal mag es Dramaturg*innen so vorkommen, als ob gerade in der Wahl des Augenblicks, in dem die Frage ausgesprochen wird, schon die Gemeinheit liegt: Würde irgendwer von mir erwarten, dass ich ihm in fünf Minuten sagen kann, was eigentlich ein Systemanalytiker macht? Oder ein Bombologe? Doch was Dramaturg*innen sind und tun bitteschön mal schnell nach den Premierenglückwünschen, bevor das Freibier kommt, nach der Stückeinführung, wenn die normalen Zuhörer sich auf den Weg zu ihren Sitzplätzen begeben. Es ist also – wie beinah alles im Theater – eine Frage von Raum und Zeit. Oder meinetwegen: der Gelegenheit. Und wenn ich, als Vertreter dieses altmodischen Mediums, das Wesen von Internet und Blog richtig verstehe, hat der Blog eigentlich keine wirkliche Begrenzung. Er kann immer weiter gehen.
Und ist noch dazu von Einschaltquoten unabhängig. Und daher ist der Blog der ideale Ort, in ein bis vierundzwanzig Folgen, der Frage nachzugehen: Was machen eigentlich Dramaturg*innen?