Über fallende Legenden

Zur Premiere von Elfriede Jelineks Schnee weiß (Die Erfindung der alten Leier) in den Kammerspielen.

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Wie magisch Schnee doch ist. Jedes Jahr aufs Neue entfaltet er seinen großen Zauber, wenn er als Staubzucker die bergige Landschaft veredelt und graue Städte mit seiner hellen, jeden Lärm schluckenden Decke überzieht. Als könnte er die Welt ein wenig besser, vielleicht sogar unschuldiger machen. So könnte es zumindest sein, hätte die Werbeprosa etwas mit der Realität zu tun.

Dass unter der freundlichen Oberfläche aber Abgründe lauern, weiß die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek schon lang. Immer wieder hat sie mit ihrem Schreiben und Denken Legenden jeder Art zertrümmert: Die Unumgänglichkeit des Kapitalismus, Geschlechterbilder, Geschichtsklitterung, bewusstseinsbestimmende Medien und nicht zuletzt eben auch vermeintliche Idyllen von Heimat und Natur hat sie messerscharf, aber immer wieder auch mit feiner Ironie in ihre Einzelteile zerlegt.

Dass ausgerechnet der Schnee, der Österreich Jahr für Jahr Millionen Menschen in die Berge spült, seine Unschuld verloren hat, konstatierte sie bereits mehrfach, etwa als sie in ihrem Stück In den Alpen (2002) die Todesfälle von Kaprun mit der Geschichte des Alpinismus und Antisemitismus kurzschloss: „Alles will in den Schnee, um dort Spaß zu haben, und was haben die Insassen der Bahn bekommen? Sie wurden selber zu Ruß, verbrannt, bevor sie das Weiße der Gletscherfirnis erreichen konnten.“

In Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier) nimmt sich Elfriede Jelinek einen weiteren österreichischen Mythos vor, um ihn wortgewaltig zu zertrümmern: jenen von der glorreichen Skination. Den Stein ins Rollen gebracht hatte die ehemalige österreichische Abfahrtsmeisterin Nicola Werdenigg, als diese im Jahr 2017 im Standard sexuellen Missbrauch durch einen Kollegen in den 1970ern öffentlich gemacht hatte und damit die Grundfesten des nationalen Selbstbewusstseins erschütterte.

Es folgten weitere Enthüllungen über Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe in Skiinternaten, Trainingslagern und Wettkämpfen sowie Einblicke in ein frauenfeindliches, repressives, streng hierarchisches System. Im Mittelpunkt: der Österreichische Skiverband und die Machenschaften des damaligen Präsidenten Peter Schröcksnadel, den das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel als „Ski-Napoleon und Alpenkönig“ bezeichnete.

In einer weiteren Hauptrolle: der ehemalige Nationalheld Toni Sailer, „der Blitz aus Kitz“, der mit seinen Siegen in den 1950ern das Fundament des Mythos legte und dem mittlerweile Vergewaltigungen in mehreren Fällen – auch gegen eine Minderjährige – vorgeworfen werden.

Ausgehend von diesen Enthüllungen befasst sich Elfriede Jelinek in ihrem Stück aus dem Jahr 2018 mit der heiligen Kuh des Skisports, Frauenbildern von der Antike bis zur Gegenwart, Fragen nach Schuld und Strafe sowie der Sehnsucht nach Held:innen und dem großen Rausch. Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier) ist eine bitterböse Bestandsaufnahme der modernen Religion des Sports und ein wortgewaltiges, bildreiches, aufwühlendes Sprachereignis. Nach Einladungen zu den Mülheimer Theatertagen, dem Heidelberger Stückemarkt und den Autor:innentheatertagen Berlin wird es nun – nach einer corona- bedingten Verschiebung – endlich seinen Weg nach Linz finden.

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