Die wirkliche Schlüsselfigur der Geschichte ist ein Minister namens Flint, in dessen Hand Bernhardis Schicksal im entscheidenden Moment liegt, und der zwischen zwei Koalitionspartnern im Parlament hin und her laviert: den Deutschnationalen und den Christlichsozialen.
Beides Auffangbecken der Benachteiligten unterschieden die Parteien sich in ihrer Ausrichtung: Die Nationalen unter ihrem Anführer Georg Ritter von Schönerer versammelten sich um Volk und Vaterland, die Sozialen unter Dr. Karl Lueger propagierten einen „christlichen Staat“. Konkurrenten, die sie waren, konnten sie sich doch auf einen gemeinsamen Feind einigen: die Juden.
Zwar betrachtete die christliche Partei das Judentum hauptsächlich als andere Konfession, unterschied also zwischen gläubigen und konvertierten Jüdinnen und Juden, die Nationalen hingegen hatten die Rassenlehre für sich entdeckt und sahen Juden nicht als Religionsgemeinschaft sondern: „Ob Jud, ob Christ ist einerlei – in der Rasse liegt die Schweinerei!“ Es ist der historische Moment, in dem der mittelalterliche, christliche Antijudaismus zum rassistischen Antisemitismus wird.
Die Populisten Schönerer und Lueger machten Abstiegsangst und Elend ihrer Wähler zum Nährboden florierender Bewegungen. Die seit Jahrhunderten im Abendland als Sündenbock missbrauchten Juden mussten wieder als Verursacher aller möglichen Probleme herhalten. Die Christlichsoziale Partei machte sie für die wirtschaftliche Krise nach dem Börsenkrach von 1873 verantwortlich.
In Anbetracht ihres Engagements um das Gemeinwesen, auch ihrer Identifikation mit der Kultur des Habsburgerreichs konnten viele Jüdinnen und Juden Wiens den populistischen Antisemitismus nicht recht nachvollziehen. Gab es unter ihnen doch bedeutende Mäzene, Förderer sozialer Einrichtungen, Wissenschaftler, Ärzte, Staatsdiener und Militärs. Die Idee, dass ihre gesellschaftliche Minderheit die selbstgemachten Schwierigkeiten der gesellschaftlichen Mehrheit verursacht haben sollte, musste ihnen als irrwitziges mittelalterliches Märchen vorkommen.
Schnitzlers vermeintliche Komödie zeigt die Hauptstadt der Monarchie als Ort, an dem gekungelt und geschachert wird, in der das taumelnde Weltreich sich langsam selbst ruiniert. Der Antisemitismus ist ihm nicht viel mehr als ein Requisit im Kampf um Geld und Macht, im Ringen zwischen Aufklärung und Populismus.
Ahnte Schnitzler 1912, wohin das alles führen sollte? Vielleicht hätte er sein Stück dann nicht „Komödie“ genannt. Uns Heutigen ist es fast nicht möglich, es noch so zu nennen. Die packende Momentaufnahme einer zerfallenden Gesellschaft ist es allemal und mehr denn je.