„Die skandalöse Oper Sancta der österreichischen Regisseurin Florentina Holzinger sorgte für Aufsehen und führte zu 18 Erste-Hilfe-Einsätzen, da das Publikum auf die provokanten Darstellungen von nackter Haut, echtem Blut und Piercingvorgängen nicht vorbereitet war.“
heute, 10.10.2024
SKANDAL, SKANDAL!
Bei manchen Online-Kommentaren zu Theateraufführungen, die es heute tatsächlich doch mal schaffen, mit dem Label „skandalös“ versehen zu werden, mag man glauben, es handele sich dabei um ein neues Phänomen. „Das also soll Kunst sein? Da bleibe ich lieber Kunstbanause!“ oder „Ekelhaft und beklemmend!“ sind noch eher gemäßigte Reaktionen auf den Artikel über die „Skandaloper“ Sancta in Stuttgart. Dabei gehört das Erzeugen von Beklemmung und Angst, Ekel und Horror seit langem zu den Mitteln, die Theaterstücken zu Popularität verhelfen.
Komponist Stephen Sondheim und Autor Hugh Wheeler beziehen sich bei ihrem Musicalklassiker Sweeney Todd – Barbier des Grauens von Fleet Street (1979) explizit auf die Tradition des „Grand Guignol“, jenes Schock- und Horrortheaters, das Ende des 19. Jahrhunderts in Paris erfunden wurde. Während Sondheim und Wheeler in Sweeney Todd eine einzigartige Mischung aus psychologischer Horror-Operette und schwarzer Komödie erschaffen haben, lohnt sich zur Einordnung dieses Werks der Blick auf das nur etwa 300 Plätze fassende Théâtre du Grand Guignol im Pariser Vergnügungsviertel Pigalle, das bis 1967 der Idee seines Gründers Oscar Méténier treu blieb.
ZAHL DER OHNMACHTSANFÄLLE ALS MASS DES ERFOLGS
Ein typischer Theaterabend verlief, wenn man Autor Mel Gordon in seinem Buch The Grand Guignol Glauben schenken darf, dort in etwa so: „Sechs Zuschauer verließen den Raum, als eine Schauspielerin, die gerade ihr Auge verloren hatte, wieder auf der Bühne erschien – mit einem scheußlichen blutigen Loch im Schädel.“ Die Schauspieler:innen klopften sich gegenseitig auf die Schultern, wenn ihre realistischen Horrordarstellungen eine möglichst hohe Anzahl von Ohnmachtsanfällen hervorgerufen hatten. Eine Szene über eine unglücklich verlaufende Bluttransfusion stellte den Rekord auf: 15 bewusstlose Besucher mussten von dem fest vom Theater angestellten Arzt behandelt werden. In den 1950er Jahren wurde bei einer Vorstellung von Verbrechen im Irrenhaus nach dem Arzt gerufen, als einer Besucherin die Sinne schwanden. Als er endlich gefunden wurde, stellte man fest, dass auch er in Ohnmacht gefallen war …
Eigentlich ist der „Guignol“ in Frankreich jedem Kind als Held des Puppentheaters bekannt. Er ist das Gegenstück zum deutschen Kasper(le) oder dem österreichischen Hanswurst. Méténier war aufgefallen, dass die Guignol-Vorstellungen Kinder in heftige Emotionen versetzen konnten, während das Erwachsenentheater sein Publikum zwar intellektuell forderte, aber auf der Gefühlsebene meist wenig Spuren hinterließ. Mit seiner Erfindung des „Grand Guignol“ wollte er das ändern – und bei der Wahl seiner Mittel war er wenig zimperlich. Als nebenberuflicher Begleiter der letzten Momente von Schwerverbrechern vor ihrer Hinrichtung sammelte er Stoff für seine düsteren Stücke.
Düster war auch sein 1897 gegründetes Theater: Am Ende einer dunklen Pariser Sackgasse fand er eine verlassene gotische Kapelle, die er kaufte und in sein „Théâtre du Grand Guignol“ verwandelte – mit knapp 300 Plätzen das kleinste Theater von Paris. Einen Skandal produzierte Méténier schon mit seinem ersten Stück, Mademoiselle Fifi, in dem eine französische Prostituierte (gespielt von einer echten Sexarbeiterin) einen preußischen Offizier ersticht. Die weiteren Aufführungen wurden zwar polizeilich verboten, doch der Skandal verschaffte dem neuen Theater rasch große Bekanntheit.