EIN PROPHETISCHER BLICK AUS DEM JAHR 1595 IN EIN THEATER DES JAHRES 2024
Uh, ah, oh! Welch gleißend’ Licht mir die Netzhaut sengt! Und welch lärmend’ Getös’ mein Trommelfell peinigt! Ich sehe – whoa! – was ich niemals sah zuvor. Da ist ein heftig mit den Armen fuchtelnder Mann in einem großen, dunklen Loch an einer kleinen Orgel, deren Gebraus’ trotz ihrer Winzigkeit den heftigsten Orkan übertönen würde. Mit ihm im Loch ein Dutzend Musikanten mit schillernden Lauten, goldglänzenden Schalmeien und vielfach gewundenen Hörnern, die sich mit vereinten Kräften anschicken, den fuchtelnden Organisten zu übertönen. Die Bühne über ihnen wird von Myriaden kalt brennender Fackeln erhellt, darauf Schauspieler, neben Männern auch Weibsvolk, und sie brüllen gegen den von der Kapelle erzeugten Radau an. Und was für Stimmen sie haben! Stimmen so laut wie die Jehovas, als er Moses die zehn Gebote verkündete, Stimmen so laut wie der Donner nach einem todbringenden Gewitterblitz oder dem Ausbruch eines Vulkans!
Doch halt, was geschieht jetzt? Zu den brüllenden Akteuren gesellt sich ein gutes Dutzend leicht bekleideter Tänzerinnen, die von ihren muskulösen Partnern in die Luft geschleudert werden. Ob Mädel, ob Bursch’, ihre Schuhe sind mit Eisenplatten beschlagen, mit denen sie rhythmisch auf den Boden stampfen. Sie alle grinsen wie irrgewordene Possenreißer über das große Loch mit der Kapelle darin zu einem guten Tausend Bürgersvolk hinunter, das durch Klatschen und Johlen das ohrenbetäubende akustische Chaos komplettiert und samt und sonders taub sein muss, liefe es doch sonst in alle Himmelsrichtungen davon.
Verzeiht, Herr, aber die Vision ist zu überwältigend. Ich muss mich ihr entziehen, indem ich dem tobenden Saal entfliehe, durch eine schwere Schwingtür hinaus. Ich werfe sie hinter mir zu, und das Gebrüll, das Getöse und Eisenschuhgeklapper erstirbt. Mir klingelt es noch in den Ohren, und die Augen flirren mir ob der blendenden, farbigen Lichter. Das ist die Zukunft des Theaters?
Was ist das an der Wand dort? Eine Art Kristallkugel, aber nicht rund, sondern flach und rechteckig, darin erscheinen wechselnde Bilder und lateinische Lettern – ist es Magie? Und was steht da? „SOMETHING ROTTEN! – Hamlet oder Omelett, das ist die Frage.“ Ein Bannspruch? Eine geheime Losung? „Deutschsprachige Erstaufführung 16. November 2024!“, spricht die flache Kugel nun zu mir. Tatsächlich, mein Weissagungssinn scheint bis ins 21. Jahrhundert zu reichen! Aber dieser sechste Sinn hilft mir nicht viel dabei, den Sinn des Rausches zu erfassen, den mir meine ersten fünf Sinne in diesem Theater vermittelt haben.