George Gershwin

Vom hyperaktiven Straßenjungen zum Musikgenie

PremierenfieberStrikeUpTheBand

Der zehnjährige George Gershwin war ein hyperaktiver, rauflustiger New Yorker Straßenjunge, der regelmäßig die Schule schwänzte – das Gegenteil seines pflichtbewussten älteren Bruders Ira. Doch eines Tages hörte er von der Straße, wie sein Mitschüler Max Rosenzweig in der Schulaula Violine spielte – und war gebannt.

Er begann, auf dem Klavier eines Freundes herumzuklimpern, so dass er, als seine Mutter ein Klavier erwarb, zur Überraschung der Familie bereits populäre Ragtime-Stücke spielen konnte. Eigentlich hatte Bruder Ira Klavierunterricht bekommen sollen, aber bald wurde klar: George ließ sich nicht mehr von den Tasten vertreiben. Sein erster richtiger Klavierlehrer Charles Hambitzer erkannte Georges Talent: „Er will das moderne Zeug spielen, Jazz und was weiß ich. Aber ich lasse ihn das erst einmal nicht machen. Ich will ihm zuerst eine solide klassische Basis beibringen.“ Und das waren für Hambitzer Chopin, Debussy und – tatsächlich – Schönberg.

Auch sein zweiter Lehrer, Edward Kilenyi, war sowohl in der klassischen als auch in der Unterhaltungsmusik zuhause. George inhalierte die Populärmusik mehr, als dass er sie lernen musste. Als junger Komponist eiferte er weniger Mozart und Beethoven nach als den Musicalkomponisten Irving Berlin und Jerome Kern, und als Pianist orientierte er sich eher an den Music Halls in Harlem als an Rachmaninow.

Mit 15 Jahren verließ George die Handelsschule und heuerte bei einem Musikverlag an, um dort am Klavier für 15 Dollar die Woche Vaudeville-Künstlern neue Songs schmackhaft zu machen. Mit 21 schrieb er den Song „Swanee“, der von Al Jolson aufgenommen wurde und dessen Notenausgabe sich millionenfach verkaufte. Und mit 22 lieferte er bereits die Musik für die jährliche Broadway-Extravaganza George White’s Scandals. Anfang 1924 – er war 25 Jahre alt – ließ er sich überreden, innerhalb nur eines Monats das Konzertstück Rhapsody in Blue zu schreiben, das von Paul Whitemans Jazzorchester triumphal uraufgeführt wurde – in Anwesenheit von Sergej Rachmaninow, John Philip Sousa und vielen anderen Größen des Musikbusiness. Das Werk eroberte die Welt im Sturm, und Gershwins Berühmtheit erhielt zehn Monate später einen weiteren Schub, als Fred Astaire in seinem Musical Lady Be Good! zum Star wurde. Mit Bruder Ira, der die Songtexte geschrieben hatte, erfand George dafür eine geradezu verschwenderische Menge an Hits: „Fascinating Rhythm“, „Oh, Lady Be Good“, „The Man I Love“.

Gershwin träumte davon, eine „amerikanische Oper“ zu schreiben, aber urheberrechtliche Probleme verzögerten die Arbeit an Porgy and Bess, die er schon 1926 angegangen hatte, um sieben Jahre. Stattdessen stürzte sich Gershwin jetzt in ein Projekt, das wieder seine Offenheit gegenüber allen musikalischen Formen unterstrich: das satirische Anti-Kriegs-Musical Strike Up the Band im Stil einer Gilbert-and-Sullivan-Operette. Das Buch schrieb der arrivierte Theater- und Drehbuchautor George S. Kaufman, der u. a. für die absurden Drehbücher der Marx-Brothers-Filme Cocoanuts, Animal Crackers und A Night At The Opera verantwortlich zeichnete und später mit The Band Wagon und Dinner at Eight sowohl im Musical als auch im Sprechtheater Welthits hatte. Für die Gesangstexte wählte George seinen Bruder Ira, der so die Gelegenheit erhielt, Lyrics zu schreiben, die denen seines großen Vorbilds W. S. Gilbert nacheiferten. Nach dem kometenhaften Aufstieg der Gershwins zweifelte niemand daran, dass Strike Up the Band ein Erfolg werden würde.

So kann man sich täuschen. Kaufman mochte Musik nicht besonders. Als Ira ihn während der Arbeit an Strike Up the Band fragte, ob es im zweiten Akt nicht eine gute Gelegenheit für eine Reprise eines der Gershwin-Songs gäbe, meinte Kaufman nur trocken: „Klar. Wenn ich auch eine Reprise eines meiner Witze einbauen darf.“ Kaufman assoziierte Musik mit Liebesszenen, und die waren ihm ein Gräuel. Es gab jedoch auch Gemeinsamkeiten. Alle drei waren in der Populärkultur zuhause, arbeiteten aber nicht exklusiv in ihr. Wie Ira war Kaufman ein scharfer Beobachter gesellschaftlicher Klischees, blieb in der Regel mit seiner Kritik aber innerhalb der Grenzen akzeptierter gesellschaftlicher Normen. Nur einmal in seiner Karriere legte er sich keine Beschränkungen auf: bei seinem Buch für Strike Up the Band.

In seinem Buch legte Kaufman eine Sicht auf den Krieg an den Tag, wie sie unerbittlicher, zynischer und düsterer bis dato auf keiner amerikanischen Bühne gewagt worden war. Strike Up the Band nimmt die geheimen Absprachen zwischen Wirtschaft, Politik und Militär aufs Korn, seine Themen sind Strafzölle, Steuern und alte Freunde des Präsidenten, die im Stillen zu Regierungsberatern werden. Kaufmans Kritik zielt auf den Hurrapatriotismus und die Engstirnigkeit, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten wie ein Krebsgeschwür ausgebreitet hatten.

Beängstigend aktuell kommt uns dieser Ansatz heutzutage vor. Bei der „Tryout-Produktion“ (Testvorstellungen außerhalb New Yorks) fiel Strike Up the Band beim Publikum durch, obwohl die Kritiken durchwegs positiv waren. Die brutale Realität des Krieges lag womöglich noch nicht lange genug zurück, als dass die Leute darüber lachen wollten. Wegen eines Streits über die Einfuhrzölle für Schweizer Käse in den Krieg ziehen? Was heute ebenso lächerlich wie wahrscheinlich erscheint, wollte damals keiner sehen, und so schaffte es das Stück erst gar nicht an den New Yorker Broadway. Kaufman bemerkte dazu nur: „Satire is what closes on Saturday night“: Ein satirisches Stück schafft es am Broadway allenfalls bis zur Premiere, bevor es wieder abgesetzt wird.

Da Produzent Edgar Selwyn aber unbeirrt an die Idee des Stücks glaubte, kündigte er drei Jahre später, 1930, eine überarbeitete Version von Strike Up the Band für den Broadway an. Die Gershwins schrieben ungefähr die Hälfte ihres Scores neu, Kaufman und der von ihm als „Show Doctor“ ins Spiel gebrachte Morrie Ryskind ersetzten Käse durch Schokolade und verbannten den Krieg in eine Traumsequenz. Und siehe da – die „Softversion“ von Strike Up the Band brachte es auf fast 200 Vorstellungen. Morrie Ryskind jedoch stöhnte später über seinen Auftrag: „Was ich tat, war so ähnlich, wie Tolstojs Krieg und Frieden für Stan Laurel und Oliver Hardy zu adaptieren.“

Und weil knapp hundert Jahre später in diesem Fall auf der Hand liegt, dass die erfolglose Urfassung um Klassen besser ist als die erfolgreiche Bearbeitung, spielt das Landestheater heute die Urfassung von 1927 – mit einer winzigen Änderung: Nicht die Schweiz steht im Mittelpunkt der amerikanischen Invasoren, sondern … Österreich!

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