Philosoph:innen, Künstler:innen und Intellektuelle beschäftigten sich seit dem Erstarken der Industrie im 19. Jahrhundert mit dem Aufschwung der Technik und der Naturwissenschaft. Er war nämlich nicht nur monetär erfolgreich, sondern sorgte auch dafür, dass nicht mehr die Philosophie als übergeordnete Disziplin an den Universitäten im Vordergrund stand. Sie wurde abgelöst von den präzisen, zudem mess- und überprüfbaren Methoden der neuen Disziplinen. Diese erlaubten nicht nur, die Wirklichkeit formelhaft zu beschreiben, ihre Ergebnisse konnten für die Gesellschaft unmittelbar nutzbar gemacht werden. Der Rückkoppelungseffekt war und ist bis heute enorm. Man könnte also sagen: Nicht das kritische Verwenden des eigenen Verstandes hinsichtlich Politik, Kunst und Geschichte sichert den Fortschritt, sondern das Auffinden physikalischer Formeln und technische Innovation. Diese erscheinen fortan als verlässlicher Garant zur Einlösung des aufklärerischen Projekts.
Doch trotz allen Fortschritts und errungenen Wohlstands löste sich die kantische Hoffnung von der Aufklärung als Friedens- und Freiheitsprojekt nicht ein. Im Gegenteil. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereigneten sich gleich zwei Menschheitskatastrophen, die engmaschig mit der erstarkten Industrie und den naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften im Zusammenhang standen. Sei es das neue (Kriegs)Gerät, das im ersten Weltkrieg gezeigt hatte, wie verheerend es Schlachten beeinflussen kann. Oder die systematische, ja technisch-industriell organisierte Vernichtung der Juden im sogenannten Dritten Reich. Die vielgelobten Erfindungen der scheinbar aufgeklärten Welt richteten sich also plötzlich gegen die Menschheit. Der Fortschritt offenbarte seine Monstrosität, die Aufklärung ihre vernichtende Seite, die sie selbst nicht erkannt hatte oder eben nicht erkannt haben wollte. Denn es gab nicht wenige Stimmen, sei es aus der Philosophie oder auch aus dem Feld der Kunst, die sehr vor der unreflektierten Beschaffenheit der technisch geprägten Zivilisation gewarnt hatten und die spätestens nach 1945 dafür sorgten, dass es zu einem Wiedererstarken der philosophischen und künstlerischen Positionen kam. Im Bereich der Philosophie wurde wohl kaum ein Text einflussreicher als Die Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Und auf der künstlerischen Seite wiederum wurde wohl kaum ein Stück berühmter als Friedrich Dürrenmatts Die Physiker. Die Komödie wurde 1962 in Zürich uraufgeführt und es redete alle Welt davon. Noch heute gehört sie zu den am häufigsten gespielten Theaterstücken. Dürrenmatt erweist sich als ein polemischer Könner. Das Stück ist schnell und pointenreich, es scheut Kalauer nicht. Doch es zeigt auch einen Dürrenmatt, der seine Zeit in eine Groteske zu gießen im Stande war. Denn hinter all dem Witz und der Skurrilität steckt das entscheidende Thema: die ethische Verantwortung der Wissenschaft. Sicherlich: Damals ging es um die Atombombe. Doch abgesehen davon, dass wir uns seit dem russischen Angriff auf die Ukraine mit der gespenstischen Wiederkehr überwunden geglaubter Zeiten befassen müssen, ist das Thema angesichts diverser Fortschritte im Bereich der Digitalisierung oder der Genforschung allgegenwärtig.
Und so lohnt es sich, das Stück rund um den genialen Physiker Möbius genau unter die Lupe zu nehmen. Denn dieser hat nicht nur wichtige Fortschritte in der Physik erzielt, er hat sogar die Weltformel entdeckt. Doch im Gegensatz zu vielen seiner Kolleg:innen stehen ihm die gesellschaftlichen Konsequenzen seiner Entdeckung unmittelbar vor Augen – nichts weniger als die Vernichtung der Welt wäre damit zu bewerkstelligen. Dies darf nicht geschehen und so tarnt er sich als verrückt. Er behauptet, der König Salomo würde ihm erscheinen und die Geheimnisse der Natur offenbaren. Fortan fristet er sein Dasein in einer Heilanstalt. Sein grundlegendes Dilemma verliert er auch nach vielen Jahren nicht aus den Augen. So fragt er etwa zu Beginn des Stückes den Inspektor, welcher wegen eines Mordfalls gerufen wurde: „Verstehen Sie etwas von Elektrizität?“. Der Inspektor antwortet: „Ich bin kein Physiker.“ Darauf Möbius: „Ich verstehe auch wenig davon. Ich stelle nur aufgrund von Naturbeobachtungen eine Theorie darüber auf. Dann kommen die Techniker. Sie gehen mit der Elektrizität um wie der Zuhälter mit der Dirne. Sie nützen sie aus. Sie stellen Maschinen her, und brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte. So vermag heute jeder Esel eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen – oder eine Atombombe zur Explosion.“
Zu diesem Zeitpunkt ahnt Möbius noch nicht, dass sein Plan längst gescheitert ist. Sowohl die beiden anderen Patienten – ebenfalls Physiker – als auch die Leiterin der Anstalt, Mathilda von Zandt, haben es längst auf ihn abgesehen. Insbesondere letztere repräsentiert als Eigentümerin der Psychiatrie das Unternehmertum und verkörpert jenen fatalen Mechanismus, der genau dann einsetzt, wenn man sich einer wissenschaftlichen Errungenschaft mit bloßem Macht- und Gewinnstreben nähert. So sagt die Ärztin in ihrem Schlussmonolog: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“ Und auf dem Höhepunkt ihres Triumphes brüllt sie: „Mein Trust wird herrschen, die Länder, die Kontinente erobern, das Sonnensystem ausbeuten, nach dem Andromedanebel fahren!“: „Gehen wir. Der Verwaltungsrat wartet. Das Weltunternehmen startet, die Produktion rollt an.“
Angesichts der Tatsache, dass manche Konzerne, Banken und Fonds tatsächlich von Leuten geleitet werden, die nicht als normal gelten können, wirkt dieser Abgang sehr unheimlich. Noch unheimlicher wirkt jedoch, dass wir die Skepsis des Stückes gegenüber den großen technischen Fragen unserer Zeit beinahe verlernt zu haben scheinen. Vielmehr erwarten wir die großen Veränderungen nicht mehr von der Politik, sondern von der Technologie (Stichwort: Klimawandel). Die Eigendynamik der Technik wird wieder als eine Art Naturgesetz aufgefasst, dem sich entgegenzustellen widersinnig wäre. Dabei wären die Worte Dürrenmatts heute wichtiger denn je, welche er den Physikern hintangestellt hat: „Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen“. Und: „Was alle angeht, können nur alle lösen. Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.“ Denn längst sind uns die Technik und ihre Möglichkeiten enteilt. Günther Anders nannte diesen Umstand „Prometheisches Gefälle“ und diagnostizierte, dass Technik insgesamt darauf aus sei, die Menschheit zum Verschwinden zu bringen. Die Tendenz aller Technik, ihre immanente Logik lautet: ohne uns. Technik ist schlechthin das Projekt der Überbietung des Menschen. Angesichts dieses Widerspruchs und unserer Unzulänglichkeit müsste es uns eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben. Doch stattdessen werden „neue Technologien und Zukunft“ zum entscheidenden Begriffspaar unserer Gegenwart. Die Begeisterung, mit der technische Innovationen aufgenommen und sofort in die Lebenswelt integriert werden, ist unübersehbar. Vielleicht zurecht. Aber dass darin Gefahren lauern, lehrt die Geschichte. Die Weitsicht und Empörungsfähigkeit eines Günther Anders oder eines Friedrich Dürrenmatts können uns eindringlich daran erinnern.