Die Cyborgs und Wir

Zur Premiere von Eine posthumane Geschichte

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Seit der Mensch denken kann, versucht er, über seine eigenen Beschränkungen hinauszugehen. Und über die Jahrhunderte und Jahrtausende hat er die erstaunlichsten Mittel und Wege gefunden, seine eigenen Unzulänglichkeiten zu kompensieren. Sei es durch den Einsatz von Feuer und Werkzeugen. Sei es durch die Entwicklung der Medizin. Sei es durch die Erfindung immer effizienterer Kommunikations- und Transportmittel, um nur einige der grundlegendsten Errungenschaften zu nennen. Was allerdings sämtliche Angehörige des Homo sapiens über alle Zeiten hinweg miteinander verband, war eines: Die Grenzen von Geist und Körper waren die Grenzen ihrer Welt.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt sich aber, dass der Mensch eine Art physisch-mentales Update erhalten könnte – und zwar durch Biotechnologie, durch Cyborg-Technologie und durch die Erzeugung nicht-organischer Lebewesen. In diesen neuen Möglichkeiten zur Transformation erkennt etwa der israelische Historiker Yuval Noah Harari das Potenzial, eine gänzlich neue Spezies zu schaffen: „Das dritte große Projekt der Menschheit wird es sein, dass sie für sich göttliche Schöpfungs- und Zerstörungsmacht erwirbt und den Homo sapiens zum Homo deus erhebt.“ Soll heißen: Der Mensch könnte einen gottgleichen Status erringen, mit dem sich sämtliche Zumutungen der Existenz – Alter, Tod, die Grenzen von Raum und Zeit – in Luft auflösen lassen.

Natürlich stehen wir noch am Anfang. Und doch: Die Verbindung von Mensch und Maschine ist längst nicht mehr zu leugnen. Auch die Existenz von Cyborgs – also kybernetischen Organismen – ist keineswegs mehr reine Zukunftsmusik. So ließ sich der britische Künstler Neil Harbisson bereits im Jahr 2003 einen Eyeborg einsetzen, mit dessen Hilfe er, der von Geburt an nur zwischen Schwarz und Weiß unterscheiden konnte, seither Farben mittels akustischer Signale wahrnehmen kann. Harbisson gilt als erster Mensch, der von einer Regierung als Cyborg anerkannt wurde.

Posthumane Geschichte
Eine posthumane Geschichte | Foto: Herwig Prammer

Bereits seit den 1970er Jahren wiederum lotet der zypriotische Künstler Stelarc in spektakulären Performances die Grenzen des menschlichen Körpers aus. Mit den Muskeln seiner Beine gelang es ihm beispielsweise, eine dritte Hand zu bewegen. An seinem Arm ließ er wiederum eine aus menschlichen Zellen bestehende Ohrprothese einsetzen, die es Nutzer:innen auf der ganzen Welt ermöglichen soll, sich online in das Ohr einzuloggen und auf diese Weise zu jeder Tages- und Nachtzeit am Leben des Künstlers teilzunehmen.

Der Dramatiker Pat To Yan, gebürtiger Hongkonger und in der Spielzeit 2021/2022 Hausautor am Nationaltheater Mannheim, beschäftigt sich ebenfalls seit längerer Zeit mit Visionen der Zukunft. Im Rahmen seiner Trilogie Posthuman Journey etwa taucht man ein in eine dystopische Welt, die bevölkert wird von Wesen, die nicht mehr eindeutig beseelt oder künstlich, Mensch oder Maschine sind. Im zweiten Teil der Trilogie, Eine posthumane Geschichte (engl. Originaltitel Posthuman Condition), der sich mit der künftigen Kriegsführung via Drohnen befasst, erhält beispielsweise ein Kind, das ohne Gesäß geboren wurde, einen Cyberpo. Diese Prothese verarbeitet mehr Daten als es sein Gehirn jemals könnte, allerdings lässt es das Kind auch im rasenden Tempo altern. Doch nicht nur das: Gemeinsam mit anderen wundersamen Gestalten kann es gegen die Schrecken der Welt aufbegehren.

Der besondere Reiz an Pat To Yans Zukunftsentwürfen ist, dass neben diesen Hybridwesen auch allegorische Figuren auftreten wie die Weiße Knochenfrau, die Elemente der klassischen chinesischen Literatur und der buddhistischen Tradition vereint. Außerdem gibt es vieldeutige Erfindungen wie Der Mann, der das Geisterkind füttert oder Die Ansammlung gequälter Seelen. Aus dieser Melange, die mit dem Magischen Realismus verwandt ist, spinnt Pat To Yan ein poetisches Netz, das von einer mythendurchzogenen Vergangenheit in eine noch diffuse Zukunft reicht.

In den Kammerspielen wird die Regisseurin Sara Ostertag, die dem Landestheater in der vergangenen Spielzeit eine bildgewaltige Inszenierung von Die Geierwally bescherte, dieses zeitenumspannende Netz in ihre ganz eigene Bild- und Soundsprache übersetzen.

Auf das Publikum wartet dabei keineswegs eine kalt-technoide Welt ohne Menschen, sondern eine sinnlich-fantastische Reise in ein Universum voller neuer Daseinsformen.

Eine posthumane Geschichte
Eine posthumane Geschichte | Foto: Herwig Prammer

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