Dennoch weiß Goldoni, wen er da verspottet, wenn er das Milieu verarmter Adliger oder zu Geld gekommener Bürger von Livorno, die im Juli in die Sommerfrische aufbrechen, in seiner Trilogie der Sommerfrische satirisch porträtiert.
Die Sommerfrische – in Italien „villeggiatura“ – gab es aber auch in Österreich (es wird noch zu ergründen sein, ob es sie noch heute gibt und ob die Sommerfrische des 19. Jahrhunderts dem modernen Brauch des Sommerurlaubes entspricht).
Und auch Franzobel kommt aus einem Brennpunktort der früheren Sommerfrische-Bewegung, wie der „Verschönerungsverein“ seiner Geburtsstadt Vöcklabruck im Jahre 1912 in der Broschüre „Sommerfrische Vöcklabruck“ erklärt: „Die landesfürstliche Bezirksstadt Vöcklabruck ist Schnellzugstation der Hauptlinie Wien – Salzburg, Ausgangsstation der nach Kammer am Attersee führenden Zweigbahn und hat sehr gute Bahnverbindungen mit Gmunden, Bad Ischl, Bad Aussee, Ried, Schärding, Passau, Salzburg, München usw.“
Oder, wie Franzobel selbst sagt: „Vöcklabruck ist interessant, weil es Hauptstadt im chinesischen Oberösterreich ist, die Orte im näheren Umkreis heißen Timelkam, Lenzing, Ficking, Wankham, Haiding, Pichlwang…“ (Pichlwang ist nebenbei gesagt der eigentliche Heimatort Franzobels). Aber auch wenn der Verschönerungsverein vor hundert Jahren womöglich anderes nahezulegen suchte, wird Vöcklabruck meist nicht unter die Hauptorte der Sommerfrische gezählt. Franzobel, auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Vöcklabruckern und Gmundnern: „Das kann man mit einem Wort beschreiben: neidisch. Die Gmundner sind reicher und schicker als die Vöcklabrucker.“
Und schon tauchen wir ein in die Debatte der feinen Standesunterschiede, die auch in Goldonis Trilogie der Sommerfrische die alles entscheidende Rolle spielen.
Im Zentrum steht der Wettkampf zweier Frauen, Giacinta und Vittoria, um die Frage, welche von ihnen die attraktivere, intelligentere, besser angezogene, kurz: welche von ihnen beiden die Überlegene ist. Dass sie sich überhaupt messen müssen, liegt daran, dass sich ihre sozialen Kreise mehrfach überschneiden. Insbesondere tun sie das in Form derselben Auswahl an Heiratskandidaten, die für sie erreichbar sind und die alle ihre Nachteile und Vorzüge – und sprechen wir es aus: mehr Nachteile als Vorzüge – besitzen. Giacinta und Vittoria sind nämlich in derselben Lage: Es ist unmöglich einzuschätzen, wer von diesen Kandidaten auf die Dauer das geringere Übel darstellt. Und geheiratet muss früher oder später ja doch werden. Nicht zuletzt fällt ins Gewicht, dass es nicht zu erkennen ist, wer von den Männern Geld hat und wer nur so tut.
Was sich in der Folge zwischen Frauen und Männern abspielt, gleicht einer Partie vierdimensionalem Poker: Immer, wenn die eine der umschwärmten Damen sich einem der Herren stärker zuneigt, scheint er auch ihrer Rivalin plötzlich attraktiver als die anderen Bewerber, die auch sie darauf flugs fallen lässt, um sich an die Fersen desselben Kerls zu heften, der gerade in der Gunst ihrer Rivalin stieg. Ein Spiel ohne Gewinnerin, was Giacinta schließlich dazu bringt, sich mit Vittorias Bruder Leonardo zu verloben – womöglich in dem Glauben, so wenigstens finanzielle Vorherrschaft über Vittoria zu erlangen. Was aber schon deshalb nicht der Fall ist, weil Leonardo gar kein Geld hat. Wenigstens nicht so viel, wie er zu haben vorgibt.
Alle Standespersonen des Stücks täuschen vor, mehr zu haben, als der Fall ist. Und auch das hat einen Grund: Weil sie meinen, so sich selbst – oder ihren Töchtern – bessere Partien zu sichern, und auf diesem Weg zuletzt wieder zu Geld zu kommen. Nach der Regel „gleich und gleich gesellt sich gern“, gehen sie davon aus, dass eine wirtschaftlich günstige Partie nur machen kann, wer selbst für reich gehalten wird. Und das treibt sie in die Zwickmühle: Um zu Geld zu kommen, müssen sie mehr Geld ausgeben, als sie haben.
Das verleiht dem süßen Leben und der schönen Ferienzeit den besonderen Kitzel: Dass der Lebensstil der Sommerfrische stets auf Pump, vielleicht zum letzten Mal genossen wird – wenn das Geld nicht durch ein Wunder – jedenfalls auf einem anderen Weg als durch der Hände Arbeit – doch wieder hereinkommt. (Wir erinnern uns der Art und Weise, wie der Reichtum der Familie Goldoni zustande kam.)
Der Distinktionsgewinn, das Demonstrieren von Besitz und Stand scheint – aus Goldonis Sicht – einer der Hauptzwecke des ganzen Unterfangens Sommerfrische: Die Angehörigen der besseren Gesellschaft packen für drei Monate ihren halben Hausstand ein und verlegen ihren Wohnsitz in ein Sommerhaus in ländlicherer Gegend. Womöglich wichen sie auf diesem Wege, im Italien des 18. Jahrhunderts, den klimatisch und hygienisch schwierigen Verhältnissen der Großstadt in der heißen Jahreszeit aus. In der Literatur wird dieser Nutzen aber nur als ein Aspekt des sommerlichen Ortswechsels genannt. Tatsächlich war die Sommerfrische ursprünglich eine aristokratische Institution, adlige Familien besaßen schon in der Antike und im Mittelalter mehrere Wohnsitze, zwischen denen sie im Lauf des Jahres hin und her wechselten. Dass der Sommer auf dem Land verbracht wurde, hatte auch den Zweck, in dieser Zeit die großen landwirtschaftlichen Arbeiten in ihren Besitzungen zu überwachen.
Wenn die Menschen in Goldonis Welt aber keine echten Adligen sind, täuschen sie nicht bloß auf der Ebene alltäglicher Wichtigtuerei vor, etwas anderes zu sein, als sie wirklich sind. Die Sommerfrische an sich ist das Attribut einer anderen Klasse. Und das Bürgertum, das es annektiert, imitiert nur diese nächsthöhere Klasse.
Dieser Aspekt wird in der Sommerfrische-Bewegung des 19. Jahrhunderts, wenn schon nicht verhüllt, so doch elegant verziert. Mit der Sommerfrische zeigt das reiche Bürgertum einerseits Wohlstand, andererseits die Liebe zur Natur und zum „einfachen“ Leben an. Diese durchaus widersprüchlichen Inhalte setzen sich bis in den modernen Massentourismus hinein fort.
Der Oberösterreicher Franzobel hat Goldonis Stück nun für das Landestheater Linz neu geschrieben, hat es aber nicht in eine andere Epoche versetzt, im Gegenteil: Er akzentuiert sogar die Zeit des Originalstücks, die ebenso widerspruchsgeladen war wie unsere Gegenwart ist. Unter anderem wertet Franzobel zwei alte Diener:innen der beiden reichen (oder nicht so reichen) Familien des Stückes auf: Speck und Zizza. Sie sind Stellvertreter:innen der Besitzlosen und Leibeigenen, die ihren eigenen, subversiven Blick auf die Verhältnisse der „besseren“ Leute haben. Irgendwann hören sie von einer Revolution, die in Paris stattgefunden haben soll. Darauf beginnen auch sie von einer gerechteren Welt zu träumen, entführen einen Heißluftballon und versuchen, damit nach Paris zu entkommen. Der Ballon stürzt leider ab und die Gerechtigkeit muss aufgeschoben werden. Die kleinadligen bankrotten Großbürger:innen dürfen noch weiterwursteln. Auch wenn das Kreditwunder, auf das sie alle warten, noch nicht eintritt.
Franzobel selber lebt, wie Wikipedia weiß, in Buenos Aires, in Wien und in Orth an der Donau. Die Besuche in seiner oberösterreichischen Heimat nützt er „vorwiegend zum Spazierengehen und zum Naturerleben. Nur meistens beschimpfen mich die Jäger, die selbst mit ihren Autos durch den Wald fahren. Mir werfen sie vor, dass mein Spazierengehen die Tiere erschreckt.“
Nachdem er den Bachmann-Preis gewonnen hatte, wollte man in Vöcklabruck eine Straße nach ihm benennen. Es hat einen entsprechenden Antrag im Gemeinderat gegeben. Leider ist nichts draus geworden. Franzobel hätte es gefallen, sich vor dem Straßenschild mit der Aufschrift „Franzobelstraße“ fotografieren lassen zu können. Der Antrag wurde abgelehnt. Knapp.