Vampire sind längst mehr als ein Grusel-Pop-Genre. Fand der erste große Erfolg mit Bram Stokers Dracula noch in Romanform statt, erobern Vampire spätestens mit Friedrich Murnaus Film Klassiker Nosferatu die Leinwand. Seither werden die Untoten von der Unterhaltungsindustrie begeistert aufgenommen. Die Serie Vampire Diaries bildet dabei nur die Spitze des Vampirserienberges. Auf Netflix finden sich derzeit knapp zwanzig Serien, die in den letzten zwei Jahren produziert wurden und sich rund um die blutdurstigen Gestalten drehen.
Doch was fasziniert uns eigentlich an Vampiren abseits des Grusel- und Unterhaltungsfaktors? Eine Erkundung dieser Frage findet sich in Sivan Ben Yishais Theaterstück Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu, in welchem Vampire zwar nicht im Rampenlicht stehen, aber als Metapher durch den Text geistern. Der Vampir interessiert die israelische Autorin demnach, wie der Titel bereits verrät, vornehmlich als Prinzip. Ein Prinzip, das uns zwar nicht viel über die Fantasiefigur des Nosferatu, dafür aber umso mehr über uns und die gegenwärtige Gesellschaft verrät, deren unheimlicher Doppelgänger Vampire sind. Sie sehen nämlich aus wie Menschen, können aber (fast) nicht sterben. Sie waren einst Menschen und wissen um das menschliche Gefühlsspektrum, doch sind sie als Vampire nun getrieben von einem einzigen Elementartrieb – die Befriedigung des Blutdurstes. Sie nennen übernatürliche Kräfte ihr Eigen, – machen sich also die Welt, wie der Mensch, Untertan –, und dennoch sind sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, da das Sonnenlicht, also die Natur, für sie tödlich ist. Philosophisch ausgedrückt: Der Vampir ist das Andere im Eigenen. Blicken wir in den Spiegel, erkennen wir uns selbst. Jedoch nicht so, wie wir uns gerne sehen, sondern wir sehen unsere dunkle Seite. Womöglich sehen wir uns sogar so, wie wir wirklich sind oder uneingestanden gerne wären – wild, triebhaft, unabhängig und nicht zuletzt: tot, aber gleichzeitig unsterblich.
Der Titel bringt das Paradox bereits auf den Punkt: „Stirb in dieser Nacht, lebe ewig.“ Diese Wendung erinnert an die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod. Doch die Ewigkeit im Himmelreich ist damit nicht gemeint, sondern ein Leben im Diesseits, dem man sich mit dem Tod eigentlich entziehen will. Um zu erkunden, auf welches Phänomen die Autorin damit zielt, lohnt ein Blick auf eine Publikation des Berliner Philosophen Byng-Chul Han, die den Titel Müdigkeitsgesellschaft trägt. In dieser führt er aus, dass der Übergang in die heutige Spätmoderne dadurch gekennzeichnet ist, dass aus einer Disziplinargesellschaft eine Leistungsgesellschaft wurde. Kennzeichnend für die moderne Disziplinargesellschaft ist, dass sie in Form von Institutionen wie Schulen, Gefängnissen oder Psychiatrien organisiert war. In all diesen Institutionen wird der Mensch diszipliniert. Es liegt die Annahme zu Grunde, dass wir Rohdiamanten sind, deren Kanten erst erzieherisch geschliffen werden müssen. Nun sind in der Leistungsgesellschaft diese Einrichtungen nicht verschwunden, aber wir haben ihre Imperative so sehr verinnerlicht, dass sie uns zur Leistung nicht mehr disziplinieren müssen, sondern wir suchen von selbst unser Heil in der ewigen Selbstverwirklichung. „Die Disziplinargesellschaft ist eine Gesellschaft der Negativität. Sie wird bestimmt von der Negativität des Verbots. Die Leistungsgesellschaft entledigt sich immer mehr der Negativität. Gerade die zunehmende Deregulierung schafft sie ab. Das entgrenzte Können ist das positive Modalverb der Leistungsgesellschaft. Yes, we can. An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation. Die Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager hervor“, schreibt Byng-Chul Han.
Und so ergeht es auch den Figuren im Stück. Sie sind allesamt erfolgreich und engagiert. Dennoch sind sie unentwegt Getriebene. Da wäre etwa der Immobilienmakler, der sich trotz prächtiger Karriere nach dem Exzess und der Gefahr des Pariser Untergrunds sehnt. Oder die erschöpfte junge Frau, die sich nach einem harten Arbeitstag dazu überreden lässt, mit dubiosen Gestalten (Vampiren) auf dem Motorrad davon zu fahren. Und nicht zuletzt eine weitere Figur, die sich so sehr selbst optimiert, sei es mit Hilfe von Psychologie, Sport oder Motivationsphrasen, bis sie sich übermüdet nach einer tödlichen Krankheit sehnt. „Wir konkurrieren uns selbst zu Tode“, schreibt Han, wir werden unendlich müde, weil die Entwicklung im stets offenen Projektkapitalismus nie abgeschlossen ist. Das Prinzip des lebenden Toten ist den Figuren der Spätmoderne also eingeschrieben und der Vampir bietet für sie nicht nur einen Spiegel, sondern auch einen Ausweg an. Er ist zwar eine ruhelose Gestalt, aber zugleich von den gesellschaftlichen Zwängen befreit. Doch Vorsicht: er mag einem den ersehnten Tod (des Systems) vor Augen halten, aber Nosferatu lebt ewig weiter und kann sich seinen inneren Zwängen dennoch nicht entziehen. Im Gegenteil – sein Leben wird eindimensional von einem ewig pochenden Trieb bestimmt, der lediglich temporäre Befriedigung findet und ihn Nacht für Nacht umherstreifen lässt. Er bleibt also der unheimliche Doppelgänger des Menschen. Sehnsuchtsort und Mahnung in einem.