Wenngleich es nun wirklich kein Verbrechen ist, dessen man jemanden ernsthaft anklagen könnte, so fällt der Verdacht ob dieser Tat zuallererst auf jenen Mann, der zwischen 1855 und 1868 an dieser Orgel wirkte, tatkräftig zu ihrer heutigen Gestalt beitrug und dessen Namen sie trägt: Anton Bruckner.
Es ist verlockend zu glauben, dass der damals gefeierte Orgelvirtuose aufgrund der Berufung nach Wien diesen Abschiedsgruß an „seinem“ Instrument hinterließ. Und diese Annahme würde sich nahtlos in die unzähligen Mythen, Legenden, Anekdoten, Bonmots und allerlei anderen unverbrieften Geschichten einreihen, die man über den „Musikanten Gottes“ zu erzählen weiß und die das Bild Bruckners heute noch dominieren. Doch all das verstellt den Blick und verzerrt in gewisser Weise auch das Verständnis über den Komponisten aus Ansfelden.
Großen Einfluss auf die Bruckner Rezeption nach dessen Tod im Jahre 1896 hatten vor allem jene Biografen, die es durchaus als ihre Aufgabe sahen, dem „verkannten Genie“, das in Wien lange um seine Anerkennung kämpfen musste, posthume Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. So haben Max Auer, August Göllerich und Ernst Décsey viel dazu beigetragen, das Bild Bruckners derart zurechtzubiegen, dass ihm noch heute die Aura des unbedarften Komponisten vom Lande anhaftet, der in der damaligen Residenzstadt einfach nur nicht verstanden wurde.
DER ORGELVIRTUOSE
Wenn man bedenkt, dass Bruckner Linz verließ, um in Wien gleichzeitig eine Stelle als Professor für Harmonielehre, Kontrapunkt und Orgelspiel am Wiener Konservatorium und als (erst „expectierender“) k.k. Hoforganist anzutreten, kann man davon ausgehen, dass in manchen Aspekten das Können Bruckners sehr wohl in der Musikmetropole erkannt worden war. Gerade als Orgelvirtuose erarbeitete sich Bruckner einen Ruf, der weit über die Grenzen des Kaiserreiches hinausreichte. Davon zeugt einerseits die überlieferte Aussage des Dirigenten Johann von Herbeck, der nach einer Abschlussprüfung Bruckners an der Orgel im Jahre 1861 den anderen Mitgliedern im Prüfungskomitee mitteilte: „Er hätte uns prüfen sollen!“ Andererseits sorgte Bruckner mit einer Konzertreise in Nancy und Paris nicht nur für Furore beim Publikum, sondern rang den französischen Komponisten Auber, Thomas, Gounod, Franck und Saint-Saëns ein einhelliges Lob ab. Bruckner selbst sollte von dieser Reise in einem Brief an seinen Freund Johann Baptist Schiedermayr schreiben: „Solchen Triumph werd [sic!] ich nie mehr erleben.“ Diese Einschätzung sollte sich in Anbetracht seines Werdegangs und seiner sinfonischen Erfolge als Irrtum erweisen.
Wenn es noch eines Beweises ob Bruckners Meisterschaft auf der Orgel bedarf, dann sei das 1871 gewonnene Probespiel in Wien erwähnt, welches ihm erlaubte, zur Weltausstellung nach London zu fahren. Dort konzertierte er in der Royal Albert Hall und im Crystal Palace mit durchschlagendem Erfolg. Eingedenk dessen, dass Bruckner die Probespiele für die jeweiligen Organistenstellen im Stift St. Florian und der Ignatiuskirche ebenso problemlos gewann, kann man behaupten, dass, wann immer er sich an die Orgel setzte, er mit niemandem den Vergleich scheuen musste – selbst nicht mit Johann Sebastian Bach.
DER CHORMEISTER
Man darf bei all der Begeisterung für Bruckners Sinfonien nicht vergessen, dass als Grundstein seines Ruhmes seine großen Messen angesehen werden können. Als Besonderheiten dieser Messen gilt nicht nur die bis dahin unbekannte Art der sinfonischen Anwendung des Orchesters, sondern auch die Behandlung des Chores. Hier muss man sich vergegenwärtigen, dass Bruckner in dem Genre der Chormusik quasi durchgehend komponiert hat, und das über einen Zeitraum von 1843 bis 1893. Die Besonderheit der Chormusik in Bruckners Leben lässt sich auch an zwei Werken seines Œuvres festmachen: Sein erstes gedrucktes Werk war die Kantate Germanenzug aus dem Jahre 1864 und sein letztes vollendetes Werk war der sinfonische Männerchor Helgoland.
Die Liedertafel Frohsinn bildete einen Ankerpunkt in Bruckners ersten Jahren in Linz, nach der Übersiedlung aus St. Florian. Er trat im März 1856 ein und sollte erst als zweiter Tenor mitwirken, dann wurde er zweiter Notenarchivar. Nach einer Unterbrechung von 1858 bis 1860 wurde er zum Chorleiter gewählt und sollte in dieser Zeit die Qualität des Chores steigern. Doch Bruckners Anspruch und jener des Chores, der mehr der Geselligkeit frönen wollte, führten schon nach einem Jahr dazu, dass sich die Wege trennen sollten. Allerdings hatte sich Bruckner in relativ kurzer Zeit einen guten Ruf als Chorleiter erarbeitet. Dieser mag, wohl neben der Sympathie Richard Wagners für Bruckner, dazu geführt haben, dass der Schlusschor von Wagners Die Meistersinger von Nürnberg am 4. April 1868 im Linzer Redoutensaal uraufgeführt wurde – noch bevor die gesamte Oper am 21. Juni in München zur Uraufführung kam.
WIE MAN VON BRUCKNER ERZÄHLT
Dies sind nur zwei Aspekte des Menschen Bruckner, dessen Geschichte und Persönlichkeit man in verschiedener Art und Weise darstellen kann. Das eine sind – wie bereits erwähnt – wohlwollende Biografien, geschrieben von Zeitgenossen mit einem vermeintlich wissenschaftlichen Anspruch. Das andere sind faktisch basierte wissenschaftliche Biografien, die sich auf Quellenmaterial berufen, dem Komponisten, seinem Leben und seiner Musik mit unterschiedlichsten Fragestellungen begegnen. Eine andere Art wiederum ist die künstlerische Auseinandersetzung. Gerade einer der ersten Biografen Bruckners, Ernst Décsey, wagte sich an dieses Vorhaben und schuf mit dem Theaterstück Der Musikant Gottes – Vier volkstümliche Bilder aus dem Leben Anton Bruckners (in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Victor León) eine biografisch theatrale Darstellung.
Das Landestheater Linz nimmt den 200. Geburtstag des Komponisten zum Anlass, sich ebenfalls künstlerisch mit der Person Anton Bruckners auseinanderzusetzen. Dabei nutzt es die einmaligen Möglichkeiten, die einzig und allein nur Linz offerieren kann: Den Raum, in dem Anton Bruckner wirkte, und das Instrument, an dem er spielte. Die dafür kreierte Oper Der Findling nach einem Libretto des Intendanten Hermann Schneider will allerdings bewusst nicht die Biografie des Komponisten erzählen, sondern vielmehr Aspekte seiner Persönlichkeit darstellen. Deswegen haben Susan Oswell und Franz Hummel – der während der Komposition gestorben ist – den musikalischen Fokus auf jene zwei Merkmale gelegt, die ebenso zu Anton Bruckner gehören wie seine Sinfonien: Chöre und Orgel.