Die Stelzhamer-Situation

Am 27. Jänner feierte Thomas Arzts Das unschuldige Werk seine gefeierte Uraufführung in den Kammerspielen.

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Das Leben des Franz Stelzhamer führte ihn weit herum, auch außerhalb der Grenzen Oberösterreichs. Geboren 1802 als Kind von Kleinbauern im Innviertel, war er Hauslehrer, Priesteramtsanwärter, Schauspieler und Journalist, ehe er 1837 mit überwältigendem Erfolg sein Buch der Lieder in obderenns’scher Volksmundart publizierte. Ein Verführer und ein schwieriger Charakter hatte er Glück bei den Frauen, brachte ihnen seinerseits aber selten Glück. In der Literatur brach Stelzhamer der Mundart eine Bahn, aber auch dem Antisemitismus. Der bekannte österreichische Dramatiker Thomas Arzt, geboren in Schlierbach, ist ebenfalls ein Spezialist für Mundartlieder. Er beschloss, das Leben Stelzhamers, unter anderem aus der Perspektive seiner Frauen, noch einmal zu erzählen.

H. C. Artmann, der Wiener Poet und Wieder-Erfinder des Mundartgedichts, schreibt im Jahr 1981: „Die Auswahl der bisher verbreiteten Mundartgedichte Stelzhamers stellt zu einseitig den heimat- und mutterliebenden, den familiensinnigen Sohn und Dichter in den Vordergrund: als erstaunliches Vorbild und leibhaftiges Beispiel für das 4. Gebot! Wer aber Stelzhamer, sein Leben und Werk kennt, muss in jenen Ausgaben den Raum zu klein finden für die treffsichere Spottlust eines Dichters, der das Bauernleben mit dem angeborenen Wissen beschrieb, dass neben der Kirche das Wirtshaus steht. Und nicht allein die Liebe zur Mutter uns Menschen den Himmel auf die Erde bringt. Gern haben die Germanisten Stelzhamer als einen Minnesänger des 19. Jahrhunderts gefeiert, doch weniger gern wurden seine zahlreichen Liebesgedichte gedruckt, die gewiss zum Besten gehören und nicht vergessen werden dürfen, wenn vom bedeutendsten Dichter deutscher Mundart die Rede ist. Um das Lied vom Helden und die Mär vom Tod hat der ebenbürtige H. C. Artmann einen Kranz von Spottliedern, ländlichen Tänzen und Liebesgedichten geflochten, mit der begleitenden Absicht, bei Jung und Alt durch diese Auswahl neue Freunde für unseren Franz von Piesenham zu finden.“

Anlässlich einer von ihm selbst zusammengestellten Neuauswahl von Stelzhamers Gedichten kritisiert Artmann also en passant die Unvollständigkeit des in der Öffentlichkeit herrschenden Bildes von Franz Stelzhamer (1802–1874), des beliebten Heimat- und Mundart-Poeten, dessen Bild auf vielen Plätzen Oberösterreichs steht, dessen „Hoamatgsang“ seit 1952 die Landeshymne Oberösterreichs ist.

Anlässlich einer von ihm selbst zusammengestellten Neuauswahl von Stelzhamers Gedichten kritisiert Artmann also en passant die Unvollständigkeit des in der Öffentlichkeit herrschenden Bildes von Franz Stelzhamer (1802–1874), des beliebten Heimat- und Mundart-Poeten, dessen Bild auf vielen Plätzen Oberösterreichs steht, dessen „Hoamatgsang“ seit 1952 die Landeshymne Oberösterreichs ist.

Das unschuldige Werk
Julian Sigl | Foto: Herwig Prammer

Was war das für ein Bild? Es war vermutlich reicher, als Artmanns Polemik vermuten ließ. Und ähnelte wohl nicht zuletzt der Hauptfigur in Hermann Bahrs Theaterstück Der Franzl aus dem Jahr 1900. Hier konnten die Theaterzuschauer in fünf Bildern die Lebensreise des Poeten Stelzhamer bewundern, der stets ein bisschen randständig in den Tag hineinlebt, mehr von Luft und Liebe als von Bier und Brezn, immer wieder daran scheitert, sich in die Gesellschaft oder in eine Karriere zu integrieren, weil im entscheidenden Moment das lose Mundwerk mit ihm durchgeht. Auf dem Höhepunkt eines jeden der fünf Bilder, sei’s im Wirtshaus, bei den Eltern oder im vornehmen Salon in Linz, wenn die Konflikte um den Franzl nicht mehr überbrückbar scheinen, improvisiert er mit der plötzlichen Inspiration des antiken Rhapsoden einen Gesang, ein Gedicht, das die gespannte Situation zusammenfasst und auflöst. Bahrs Franzl ist ein weiser Narr, lebt nah am Quell einer Inspiration, die aus dem Strom der volkstümlichen Sprache und der Volkesweisheit schöpft. Seine Sprunghaftigkeit, Unfähigkeit etwas festzuhalten oder aufzubauen, ist gerade der Ausdruck dieser Weisheit, die um die Vergänglichkeit der Welt und aller Dinge weiß, die wie ein ungeniertes Kind die Wahrheit spricht. Das Stück wurde 1908 in Linz am Vorabend der Einweihung des Stelzhamer-Denkmals im Volksgarten aufgeführt.

Vier Jahrzehnte später setzt der Germanist Hans Commenda sich maßgeblich für die Erhebung eines Stelzhamer-Gedichts zur Landeshymne ein. 1953 schreibt er über den Dichter: „Im Abschnitt ‚Sibyllinisches‘ seines 1852 erschienenen Werkes Das bunte Buch vereinte Stelzhamer eine Reihe von politischen Rück-, Um- und Ausblicken, die geradezu verblüffen durch die Mischung zeitgebundener Vorurteile und seherischer Zukunftsblicke. Meist erst nach dem Jahre 1848 verfasst, greifen sie doch auf dessen Ereignisse zurück und erweisen ihren Verfasser auch auf dem Gebiete der Politik als tiefen, selbständigen Denker.“

Stelzhamer also nicht nur eine Art früher Hippie und dichtender Naturbursch, nein, auch tiefer, selbständiger Denker auf dem Gebiet der Politik.

Das Bild war unvollständiger als H. C. Artmann dachte. Heldenverehrungen beziehen sich häufig auf Figuren, die mit einer oder wenigen Taten in die Geschichte eingegangen sind, ohne dass die Nachwelt wirklich wüsste, mit wem sie es zu tun hat. Das gilt für Wilhelm Tell genauso wie für Franz Stelzhamer. Zwar wurde in den Dokumenten seiner Hinterlassenschaft geforscht, aber die Zeit ist kurz, die Wissenschaft ist lang, und Stelzhamers Nachlass ähnlich zerstreut wie seine Vita. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts stieß der Autor Ludwig Laher auf immer mehr Zeugnisse von Stelzhamers Antisemitismus. Und veröffentlichte diese. In Briefen, Schriften und Gedichten zeigt sich Stelzhamer als Judenhasser, in seinem berüchtigten „Bunten Buch“ sogar als Vorreiter und Erfinder einer völkermörderischen antijüdischen Rhetorik. Die Diskussionen um den Heimatdichter sind seither nicht abgerissen. Insbesondere, da er in Straßennamen, Denkmälern, Kulturvereinen und – nicht zuletzt – der Landeshymne weiter überaus präsent ist.

Das unschuldige Werk
Gunda Schanderer, Horst Heiss | Foto: Herwig Prammer

Die Debatte, ob die Landeshymne ersetzt, „gecancelt“ werden sollte, ist nun eine eigene, die wir auch in anderen Zusammenhängen miterleben, und in der die Frage gestellt wird, inwiefern Werke mit ihren Urhebern zu identifizieren sind, ob ein Bild, ein Text, eine Komposition für sich steht, wenn der Autor in berechtigte Kritik gerät.

Aber Stelzhamer steht ja auch als er selbst, in Statuen und Straßennamen, überall im Land herum. Die Vorwürfe gegen ihn sind weitgehend bekannt. Interessant erscheinen daher auch die typischen Entlastungen oder Entschuldigungen für den Dichter, die in der Diskussion vorgebracht werden.

So wird Stelzhamer in Schutz genommen mit dem Argument, zu seiner Zeit sei ein großer Teil der Bevölkerung antijüdisch eingestellt gewesen, er selbst habe nicht wissen können, was Jahrzehnte später in Österreich und Deutschland geschehen werde. Auch habe das „Bunte Buch“ kaum jemand gelesen, ein populistischer Antisemitismus habe erst nach Stelzhamers Zeit eingesetzt.

Letztlich reichen diese Argumente nicht, Stelzhamers Schreiben und Agieren in einem besseren Licht stehen zu lassen. Es stimmt, das „Bunte Buch“ war kein großer Publikumserfolg, Stelzhamer veröffentlichte es unter anderem, um sich bei dem Bayerischen Ministerpräsidenten von der Pfordten, einem bekannten  Antisemiten, einzuschmeicheln. Abgesehen davon, dass auch private Briefe Stelzhamer als Judenhasser ausweisen, gab es für die Texte in dem „Bunten Buch“ also ein opportunistisches Motiv. Stelzhamer versprach sich politische Vorteile davon. Könnte man behaupten, dass sein Antisemitismus „unschuldiger“ als der späterer Generationen war, die verbrecherischen Völkermord begingen? Das würde voraussetzen, dass Stelzhamer selbst keine Gewalt an Juden beabsichtigte, was in Anbetracht des Textes „Der Jude“ aus dem „Bunten Buch“ schwer aufrecht zu erhalten ist. Auch war es nicht so, dass der Antijudaismus des 19. Jahrhunderts grundsätzlich gewaltfrei war. Dass es im Kaiserreich vergleichsweise wenige Pogrome gab, lag vor allem daran, dass nach mehreren Wellen der Judenverfolgung in den meisten Städten Österreichs im 19. Jahrhundert kaum mehr Juden lebten. Dass Stelzhamer darüber hinaus in Zeiten der persönlichen Armut Hilfe und Obdach von jüdischen Bekannten annahm, macht das Bild des politisch Haltlosen (wenn das keine Verharmlosung ist) vollständig.

Das unschuldige Werk
Eva-Maria Aichner, Christian Taubenheim | Foto: Herwig Prammer

Die zweite Frage, die wir stellen könnten, wäre jene nach der Unschuld seiner nachgeborenen Anhänger. Wie bereits erwähnt, war Stelzhamers Werk nicht allgemein und vollständig bekannt, neben wenigen Bestsellern das meiste unbekannt, verloren oder vergessen. Man müsste davon ausgehen, dass H. C. Artmann gerade da, wo er die Unvollständigkeit des Stelzhamer-Bilds beklagt, nicht wusste,  was im Schatten lauert.

Leider lässt sich diese Unschuldsvermutung nicht auf alle seine Anhänger im 20. Jahrhundert ausweiten. So beziehen sich die Lobesworte seines Biografen Hans Commenda, die wir oben zitiert haben, ausdrücklich auf das „Bunte Buch“, in welchem Stelzhamer die Juden als „unumbringbares“ parasitäres Ungeziefer bezeichnet. In dem Zusammenhang bekommen die Worte des Germanisten einen fatalen Klang: „‚Das bunte Buch‘ [vereint] eine Reihe von politischen Rück-, Um- und Aus-blicken, die geradezu verblüffen durch die Mischung zeitgebundener Vorurteile und seherischer Zukunftsblicke. Meist erst nach dem Jahre 1848 verfasst, greifen sie doch auf dessen Ereignisse zurück und erweisen ihren Verfasser auch auf dem Gebiete der Politik als tiefen, selbständigen Denker.“ Es wäre unglaubwürdig davon auszugehen, dass der Germanist, als er die Eloge schrieb, vergessen hatte, was in dem gemeinten Text geschrieben stand. Dass er darüber hinaus vergessen hatte, was sich keine zehn Jahre zuvor in Österreich und Europa zugetragen hatte, ebenfalls.

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