„National“ war in der Zeit der Kleinstaaterei ja auch nicht klein gedacht, sondern groß. Und Theater war das Leitmedium, über zweitausend Jahre Ort der öffentlichsten Rede. Und das auch noch nach Einführung des Buch- und Zeitungsdrucks. Es entstanden unsere großen Stadt- und Staatstheater, die wir – wenn der Bombenkrieg sie nicht zerstört hat – immer noch bespielen. Nur dass dieselben Häuser damals häufig an 2000 Plätze boten, wo wir heute (wie im Wiener Volkstheater) halb so viele, oder nur 800, oder 700, oder noch ein paar weniger anbieten. (Dafür mehr Beinfreiheit. Die Menschen werden ja seit dem Zweiten Weltkrieg viel größer.)
Heute schaffen Radio, Fernsehen, Internet in Sekunden Zahlen an Zuseher:innenn, für die wir ein erfolgreiches Theaterstück in einem großen Haus zehn Jahre lang spielen müssten und dann wären wir noch nicht einmal nah dran. Wer also möglichst vielen Menschen etwas sagen will, muss das nicht mehr unbedingt im Theater tun. Und umgekehrt: Zuseher:innen gehen nicht deshalb ins Theater, weil es den allgemeinen Diskurs bestimmt. Einen solchen gibt es ja auch gar nicht mehr. Es gibt gigantische Klickzahlen, und – nebenbei bemerkt – überhaupt mehr Menschen als vor 50 oder 100 Jahren. Zugleich zerfällt diese Gesellschaft in die viel beschrieenen „Blasen“: Öffentlichkeiten, die sich gegenseitig nicht mal mehr zur Kenntnis nehmen. Weshalb unsere Suchprogramme, wenn wir sie nach etwas fragen, zuerst nachdenken, zu welcher Blase wir gehören und welche Wahrheit wir demnach ertragen können. Sie wissen vor uns, was wir finden wollen, und das geben sie uns dann. Denn das ist das Erfolgsprinzip: Den Leuten immer das geben, was sie schon kennen und schon mal gekauft haben. Und diese Strategie ähnelt dem, was manche Kritiker auch dem Theater nahelegen: Mehr von dem Bekannten und Bewährten, das hilft auch der Quote.
Nun wird den Stadttheatern gerne vorgeworfen, dass auch sie heute in einer „Bubble“ (oder in ihrer je eigenen Bubble) existieren, dass das Publikum also „entmischt“ sei hinsichtlich von Alter, Herkunft, gesellschaftlichem Segment. Und besonders in den Metropolen trifft das zu: Hier ist es sogar so, dass die großen Theater (man schaue nur nach Wien) sich möglichst eindeutige Alleinstellungsmerkmale suchen (besonders divers, besonders österreichisch, besonders Video und Internet u.s.w.), um ihr Publikumssegment zu erobern.
Und jetzt kommt das Tolle: Bei großen Häusern in mittleren Städten (wie in Linz) funktioniert der Trick nicht. Ein Theater wie das Landestheater wurde vor über 200 Jahren für die ganze Stadt und für das ganze Land gebaut, und wer in Stadt und Land heute nur eine Gruppe: Linke, Rechte, Junge, Alte, Diverse oder Nicht-Diverse, einlädt, verliert mehr Publikum als er gewinnt. Im Landestheater, will es überleben, müssen also immer noch alle miteinander sitzen: Katholiken und Protestanten, Gottlose und Fromme. Das macht die Sache schwieriger, weil hier Verengung des Interesses eben nicht immer Trumpf ist. Vielmehr muss man es manchmal mit Goethes Theaterdirektor aus dem Faust halten, der die berühmten Worte spricht: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“
Aber: Dies Theater ist darum auch eine Stätte der Zusammenführung. Hier sitzen oft ganz unterschiedliche Gruppen im Saal, was dazu führen kann, dass Dramaturg:innen gerade nach besonders erfolgreichen Aufführungen gesalzene Beschwerdebriefe zugeschickt bekommen, oder, bei dem besonders herzlichen Applaus nach einem kontroversen Stück wie Jelineks SCHNEE WEISS, ein gutes Drittel der Zuseher:innen im Saal keine Hand rührt. (Bemerkenswert an dem letzten Beispiel: In den Inseln von Nicht-Applaudierenden nach dem Jelinek-Stück saßen einige Damen, die zwar nicht klatschten, doch lächelten oder mit dem Kopf nickten – irgendwie auch interessant). Singen wir also ganz schnell das Hohelied des Stadt- und Landestheaters: Es bietet im glücklichen Fall einen Ort, an dem sich die Gesellschaft wieder mischt. An dem sie nicht in vorsortierten Gruppen voneinander isoliert wird. An dem sie die Polarisierung wieder überwindet, Meinungsunterschiede aushält. Naturgemäß ist da noch Luft nach oben. Es gibt Gruppen, die man hier kaum je oder noch nie gesehen hat. Insbesondere (jetzt verrate ich ein Geheimnis) hat das auch etwas mit Geld zu tun. Also mit Eintrittspreisen, die in einem Landestheater einen zentralen Faktor der „Publikumsentmischung“ darstellen. Aber als Begegnungsstätte einer gemischten Öffentlichkeit und realer, analog anwesender Menschen, sind unsere Theater heute eine kostbare Ressource. Kostbarer denn je. Und was ist schöner als ein Schlussapplaus, in dem sich Buhs und Bravos mischen?
Das Stück von Elfriede Jelinek (SCHNEE WEISS) wird in der kommenden Saison im Landestheater übrigens wieder aufgenommen. Im November. Wir freuen uns auf alle, die es noch nicht gesehen haben. Und jetzt mal: Schönen Sommer!