Fangen wir mit Punkt 2 an und arbeiten uns langsam gegen 1 vor. Eigenlogik: Da an den meisten Stadttheatern immer mehrere Projekte zugleich proben, kann nicht jede Schauspieler:in an jedem Stück mitwirken. Sollen außerdem bestimmte Stücke eines Repertoires in verschiedenen Spielstätten zugleich gezeigt werden – sogenannte Parallelstücke – müssen auch hier die Besetzungen auseinandergehalten werden. Die meisten literarischen Theaterstücke, mindestens die, die älter sind als 20 Jahre, haben eine bereits ausformulierte Besetzungsordnung, also: Zahl der Rollen, Verteilung der Geschlechter, Alter der Figuren. Früher kamen noch die sogenannten Rollenfächer hinzu, wie: Jugendliche Naive, Jugendlicher Liebhaber, Giftmischerin, Held, Bonvivant, Polterer, Heldenvater, Komische Alte etc. Diese in den klassischen Theatertexten vorzufindenden Parameter haben im Sprechtheater heute nicht mehr dieselbe Bedeutung, spielen aber im Hintergrund noch immer eine Rolle. So wird die vorgeschriebene Zahl der Mitwirkenden eines Stücks heute gern verkleinert, Alter und Geschlecht der Rollen können geändert werden, ebenso die Fachzuordnungen. Solche Änderungen werden aber nicht im luftleeren Raum vorgenommen, sondern meist auf Basis eines Regiekonzepts. Zuerst hat die Regisseur:in eine Idee, dann entwickelt sie ihr Inszenierungs- und Besetzungskonzept. Aber täuschen wir uns nicht: Die Rollen-Zuordnungen nach Fach, Geschlecht und Alter werden – mindestens bei Stücken, die solche Zuordnungen ursprünglich enthielten – auch heute viel seltener angetastet, als man meinen könnte, wenn man das Theaterfeuilleton studiert. Allerdings sind in modernen Schauspielerverträgen die Rollenfächer nicht mehr eingetragen, daher kann dieselbe Schauspielerin, die in dem einen Stück die Jugendliche Naive spielt, in einer anderen Produktion als Intrigantin auftreten. Seit dem Siegeszug der Postdramatik häufen sich Theatertexte mit Besetzungen „ad libitum“. Das kann bedeuten, dass ein Text gar keine vorgeschriebene Dialogstruktur hat, dass es sich um einen Chortext handelt (der dann auch als Monolog gesprochen werden kann), kann heißen, dass die Sprecher:innen in Form von A, B, C angegeben werden – oder dass nur noch die Sprecher:innenwechsel durch Gedankenstriche markiert sind. Aber sogar solche Texte haben oft eine Besetzungslogik, auch wenn die sich erst beim dritten oder vierten Durchlesen erschließt. Und die Anwält:innen aller dieser Fragen nach Dramaturgie und Eigenlogik des Spielbetriebs und der Projekte sind – naturgemäß – die Dramaturg:innen. Sie müssen sich den Spielplan anschauen, die ursprünglich angegebenen Besetzungen, die Abfolge und Parallelitäten der Projekte, sie machen einen Plan, welche Besetzungen sinnvoll und möglich sind, und mit diesem Wissen begleiten sie die Verhandlungen um die Besetzungen möglichst interessensfrei und sachlich.
Im modernen Stadttheater kommen aber schon die Dramaturg:innen rasch an einen Punkt, an dem sie feststellen, dass eine rein logisch technokratische Besetzung durch das Repertoire hindurch gar nicht möglich ist. Und das liegt daran, dass heute fast jeder Spielplan Stücke enthält, die in der Kombination (also gleichzeitig) mit einem modernen Ensemble aufgrund von dessen Größe gar nicht zu realisieren sind. Weil diese Stücke schlicht zu viele Schauspieler:innen benötigen, als dass man sie „original“ besetzen könnte. Spätestens hier sind nun Regiekonzepte, also künstlerische Erfindungen, gefragt: Regisseur:innen müssen Szenarien erarbeiten, wie sie mit einer kleineren Gruppe von Beteiligten Hedda Gabler oder Das Käthchen von Heilbronn auf die Bühne bringen. Sobald sich aber die Regieteams einschalten, entwickeln sie künstlerische Visionen, die auch schon an ganz konkrete Schauspieler:innen geknüpft sind: „Wenn Wilhelm Tell eine Frau sein soll, dann kann ich mir das nur mit der Kollegin XY vorstellen.“ Solcherlei Visionen entwickeln Regisseur:innen natürlich sowieso. Aber nicht erst in einem späteren Arbeitsschritt werden sie bedeutsam, sondern bereits bei der reinen Spielplanung, also der Wahl der Stücke und Projekte und ihrer Terminierung. Die Regieteams also entwickeln ihre Konzepte, aus denen die Besetzungsvorstellungen entstehen. Dabei haben sie aber nur ihr eigenes Projekt im Blick, das im nächsten Schritt von der Theaterleitung und den Dramaturg:innen mit den anderen Projekten zusammengebracht werden muss. Das heißt einerseits – wie oben schon erwähnt: eine Spieler:in kann nicht gleichzeitig zwei Stücke proben. Wollen zwei Regisseur:innen, die Parallelstücke inszenieren, mit derselben Schauspieler:in arbeiten, müssen Dramaturg:innen und Theaterleiter:innen die Entscheidung moderieren: Wer bekommt die Wunschschauspieler:in, wer verzichtet? Am einfachsten ist das, wenn beide Seiten einen Teil ihrer Wünsche erfüllt bekommen und einen Teil ihrer Wünsche nicht erfüllt bekommen. Meist gilt die Verkehrsregel: Wer die größere Rolle anbietet, bekommt den Zuschlag. Und hier kommen die Interessen der Schauspieler:innen ins Spiel – klassischerweise vertreten durch die Theaterleitung: Ließe man nämlich nur die Regisseur:innen entscheiden (die ja nur den Überblick über ihr Stück-Projekt haben müssen, das können auch einmal zwei oder drei in einem Jahr sein), dann kann es dazu kommen, dass vier Schauspieler:innen eines Ensembles in einem Jahr alle Hauptrollen spielen und alle anderen bloß Nebenrollen. Und zwar weil eine Regisseur:in ja nicht wissen muss oder wissen kann, dass vielleicht der nächste Regisseur im Spielplan sich dieselbe Hauptdarsteller:in wie sie wünscht. Und nun gibt es verschiedene Möglichkeiten: Das Scheiß-Egal-Regime (in früheren Zeiten durchaus üblich) und die Alle-Spielen-Alles-Methode. Entweder beschließt eine Theaterleiter:in: „Regisseur:innen machen, was sie wollen. Wenn wir drei Stars haben und 18 Wasserträger: mir egal!“ oder sie sagt: „Alle müssen groß und klein spielen. Wenn eine Schauspieler:in in einer Saison zwei Hauptrollen gespielt hat, muss sie noch zwei Nebenrollen spielen.“ Methode Nummer 1, auch das Star-System genannt, ist sehr traditionell und geht zurück auf Zeiten, in denen der sogenannte Prinzipal einer Truppe auch ihr Chef und Besitzer des Unternehmens war. Der spielte dann auch gern alle Hauptrollen. Dasselbe galt übrigens auch für die berühmte Prinzipalin Caroline Friederike Neuber im 18. Jahrhundert. In den Hauptstädten hat dieses Starsystem eine zusätzliche Eigenlogik: durch Film, Fernsehen oder Bühne etablierte Stars füllen die Theater häufig unabhängig von der Qualität der Inszenierungen. Daher würde kein Privattheater abweichen vom Starsystem, aber auch subventionierte Häuser (wie das Berliner Ensemble 18 Jahre lang unter Claus Peymann) frönen rückhaltlos dem Starsystem. Da wirkliche Stars sich allerdings in kleineren Städten selten in ein Fix-Engagement binden, stellt sich die Frage dort schon anders. In den kleineren Städten sind nur die Schauspieler:innen Stars, die das Theater dazu macht. Hier kann sich ein Theater also auf einen Handvoll von Protagonist:innen einschießen oder es kann sagen: „Das Ensemble ist der Star.“ Diese Besetzungs-Politik braucht meist etwas länger, um beim Publikum Stareffekte zu erzeugen (also, dass die Zuschauer:innen wegen einer einzelnen Schauspieler:in ins Theater kommen, egal welches Stück angeschrieben ist). Allerdings hat sie viele Vorteile. Zusammengefasst würde ich sagen: Sie motiviert alle Beteiligten gleichermaßen, schafft Kollegialität und Vertrauen in den Ensembles, setzt mehr kreative Potenziale frei. Und am Ende kommen auch mehr Zuschauer:innen.