GERT POSTEL: „HOCHSTAPLER UNTER HOCHSTAPLERN“
Mindestens so interessant wie Frank Abagnales Leben erscheint das eines deutschen Hoch-staplers namens Gert Postel. Insbesondere, da seine unglaubliche Geschichte zwar auch in weiten Teilen von ihm selbst erzählt wurde, jedoch wohl tatsächlich der Wahrheit entspricht. Ein Hauptschulabsolvent und ausgebildeter Postbote bewirbt sich auf die Position des Leitenden Oberarztes in einer psychiatrischen Fachklinik in Ostdeutschland, setzt sich gegen 39 Mitbewerber durch und arbeitet – unangefochten und hochgeachtet – von November 1995 bis Juli 1997 in dieser Funktion, bis er nur durch einen dummen Zufall enttarnt wird. Um zu verstehen, wie er das geschafft hat, braucht es vielleicht noch ein paar Details.
Anhand der Stellenanzeige weiß Postel, dass die Auswahlkommission vorwiegend aus der evangelischen Landeskirche, die die Klinik betreibt, stammt und wenig mit Psychiatrie am Hut hat. Man sucht einen Bewerber, der – nun ja – evangelisch und nicht zu teuer ist. Postel wählt die Garderobe dementsprechend aus: geschmackvoll, aber nicht einschüchternd, jugendlich, aber solide. Als im Gespräch der Hinweis aufkommt, dass nicht westdeutsche, sondern geringere Osttarife gezahlt würden, erwidert Postel mit gespielter Kränkung: „So bescheiden bin ich nun auch wieder nicht, dass man glauben darf, mich mit Geld abspeisen zu dürfen.“ Knapp über 10.000 Mark Monatsgehalt werden 1995 jedoch weder in West- noch in Ostdeutschland zu wenig zum Überleben gewesen sein.
Bis hierher ist es die übliche Hochstapler-Geschichte, bei der man sich auf die Schenkel schlägt und halb bewundernd, halb ungläubig ausruft: Dass der sich das traut! Spannender wird es allerdings nach Postels Enttarnung. Vorher ist der Hochstapler ja für den Rest der Welt kein Hochstapler. Die Bewunderung für die Verwandlung in eine andere Persönlichkeit, der zwiegespaltene Respekt dafür, dass man mit so etwas durchkommen kann, der Sensationsfaktor – all das kann ja erst nach der Enttarnung entstehen. Dass Postel eine solche Popularität erlangen konnte, liegt an dem Bereich, den er sich für seine Hochstapelei ausgesucht hat. Und umgekehrt: Die Psychiatrie ist auch besonders geeignet, um in ihr als Hochstapler zu wirken.
PSYCHIATRISCHE SPRACHE – EIN BAUKASTEN
Warum sich das Psychiatrische und das Psychotherapeutische für den gewieften Betrüger besonders eignen, hat Postel häufig erklärt. Er sagt, Zuhören habe genügt, ab und zu auch Nachschlagen in einschlägigen Handbüchern. Die Aneignung der in der Psychiatrie verwendeten Sprache spielte nach seiner Aussage die Schlüsselrolle bei seinem Coup. Die Sprache der Psychiatrie, so Postel, funktioniere wie ein Baukasten, dessen Teile man beliebig und immer wieder verschieden zusammensetzen kann. Seine (erfundene) Promotion trug den Titel „Kognitiv induzierte Verzerrungen in der stereotypen Urteilsbildung“ (ein Cluster weitgehend inhaltsleerer Begriffe), seinen Antrittsvortrag hielt er über die „Pseudologia phantastica am literarischen Beispiel des Felix Krull im gleichnamigen Roman von Thomas Mann“ (ziemlich frech, einen der bekanntesten Hochstapler der Literaturgeschichte hier einzuschmuggeln). Auch als er bei einer Fortbildung vor 180 Psychiater:innen die „bipolare Depression dritten Grades“ erfand, wunderte das offenbar niemanden. Er habe sich während seiner Zeit an der Klinik als „Hochstapler unter Hochstaplern“ gefühlt.