Liebe Leser:innen, allein diese Anrede zeigt Ihnen, dass sich auch Ihr Theatermagazin FOYER5 schon vor längerer Zeit dazu entschieden hat, eine möglichst gendergerechte Sprache zu verwenden. Dies geschieht mit der Absicht, mit und durch die Sprache möglichst niemanden auszugrenzen: Frauen, Männer und Mitmenschen, deren Identität sich zwischen diesen beiden Polen bewegt, sollen sich gleichermaßen angesprochen fühlen. So etwas provoziert natürlich auch Widerstand und Vorwürfe wie die folgenden: Diese „:innen“-Konstruktionen stören den Lesefluss; sie sind absolut überflüssig, weil bereits das so genannte „generische Maskulin“ wie etwa in einer Formulierung „Liebe Leser“ alle anderen Geschlechter mitbezeichnet; und ein winziger Doppelpunkt ist bestimmt nicht dazu geeignet, alle möglichen Identitäten zwischen männlich und weiblich zu bezeichnen etc. etc. Und schon ist man mit der Aufzählung derartiger Positionen mittendrin in einer Diskussion, die heutzutage oftmals mit größter Heftigkeit geführt wird. Rechte Trolle sprechen in diesem Zusammenhang gerne von „Genderwahnsinn“ oder gar „Gendergaga“.
Die Hitzigkeit, die solche Diskussionen auszeichnet, ist dabei ein weiterer Gradmesser dafür, dass sich die westliche Welt in einem Umbruchprozess befindet. Wenn alte Werte in Frage gestellt werden oder ganz wegbrechen, ist das für die Anhänger:innen des Immergleichen mit großen Verunsicherungen verbunden. Hier ist es oftmals einfacher und vielleicht auch bequemer, die äußeren Zeichen dieses Wertewandels zu ignorieren oder gar zu bekämpfen, statt sich den Herausforderungen der neuen Zeit wirklich zu stellen und gegebenenfalls auch auf alte Privilegien zu verzichten.
Und so wird die Diskussion um eine gendergerechte Sprache und um die Frage, inwieweit gesellschaftliche Prozesse und Vorgaben das Geschlecht eines Menschen dominieren, gerne als Ursache des Wertewandels und nicht als dessen Begleiterscheinung angesehen. Denn wer offenen Auges durch diese Welt wandelt, sieht, dass die jüngere Generation kaum noch ein Problem hat, traditionelle Geschlechterrollen zu hinterfragen oder gar zu ignorieren. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass sich Teeniestars wie Harry Styles oder Timothée Chalamet mit Vorliebe mit Perlenketten, Spitzenkrägen oder in rückenfreien Outfits in der Öffentlichkeit präsentieren? Oder dass ein in der heteronormativ- machohaften Hip-Hop-Szene sozialisierter Künstler wie Machine Gun Kelly (MGK) inzwischen bevorzugt in Pink und mit lackierten Fingernägeln auftritt? Im Übrigen handelt es sich bei allen drei Genannten laut Medienberichten um heterosexuell liebende junge Männer.
Dass die Wahrnehmung von Geschlecht und die damit verbundenen Rollenmuster einem beständigen Wandel unterworfen sind, ist natürlich keine neue Erkenntnis. Hier reicht beispielsweise schon ein Blick in die Operngeschichte, um zu erfahren, mit welcher Lust frühere Generationen mit Geschlechtermerkmalen und -zuschreibungen spielten. Frauen, die Männerrollen übernehmen oder Männer, die sich als Frauen verkleiden, bevölkerten seit jeher die Musiktheaterbühnen. Eine unter Gendergesichtspunkten besonders spannende Epoche war hier die Barockzeit mit ihrer Vorliebe für Kastraten. Gleichwohl ist diese Hochzeit der virtuosen Gesangskunst nicht frei von tragischen Verschattungen, war doch die vor dem Stimmbruch der Knaben vorgenommene Operation nicht ungefährlich. Demnach litten viele Männer, so sie den oftmals unter zweifelhaften hygienischen Bedingungen vorgenommenen Eingriff überlebt hatten, ihr Leben lang unter den Folgen einer gescheiterten Operation. Diejenigen jedoch, denen aufgrund härtester Ausbildung eine Karriere auf der Opernbühne gelang, genossen oftmals einen Starruhm, der dem eines Styles oder Chalamets mindestens ebenbürtig war. Auf alle Fälle hatte das Publikum der Barockzeit aber keinerlei Schwierigkeiten damit, dass die größten Helden der Mythologie und Geschichte wie Herkules, Alexander der Große oder Julius Caesar von kastrierten, in höchsten Sopranregistern singenden Männern dargestellt wurden. Auch dass Kastraten Frauenrollen verkörperten, war etwa im Kirchenstaat üblich. So kam es eben vor, dass zwei zum Geschlechtsakt nicht fähige Sänger ein Liebesduett sangen und das Publikum dies als völlig normal ansah.
Bringt man das barocke Repertoire in der heutigen Zeit, die keine Kastraten mehr kennt, auf die Bühne, sind die Genderfluiditäten ebenfalls vorprogrammiert. Denn nun singen die männlichen Hauptrollen oftmals Sängerinnen. So auch in Linz, wenn die Titelpartie in Georg Friedrich Händels Rinaldo von dem neuen Ensemblemitglied Angela Simkin gesungen werden wird. Dass eine veritable Kampfmaschine wie Rinaldo, der den Auftrag hat, das von den Sarazenen besetzte Jerusalem zu befreien, von einer Frau dargestellt wird, erhöht nur die Lust des Spiels mit unterschiedlichen Geschlechteridentitäten. Und dieses Vorgehen zeigt, dass Ihr Theater Ihnen die Möglichkeit anbietet, sich auf vergnügliche Art und Weise mit Genderfragen auseinanderzusetzen. Im Idealfall erhalten Sie dadurch ganz entspannt und von schönster Musik begleitet erhellende Einblicke in die gegenwärtigen, für das Verständnis der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Prozesse wichtigen Diskussionen um Geschlecht und Identität.