16 | Werktreue

WasmachenDramaturg:innen?

Nachdem wir in den letzten Teilen unseres Blogs viel über die innere Verfassung unserer Stadttheater gehört haben, über den Preis, den die Theaterschaffenden für die Wahl ihres Berufes zahlen, über die Rolle, die die Direktor*innen in diesem System spielen, wäre es heute eigentlich daran gewesen, auf die Kritik einzugehen, die (auch) aus dem Inneren dieses Systems kommt, und die, mitunter aus verschiedenen Richtungen, meistens auf die Machtverteilung und den Machtgebrauch im Theater zielt.

Tatsächlich ist das kein ganz leichtes Thema, das auch einige der Grundfesten dieses Systems in Frage stellen mag.

Da im Augenblick aber durch äußere Umstände – die aktuelle Folge dieses Blogs erscheint in der vorstellungsfreien Zeit der Corona-Krise – ohnehin einige Grundgewissheiten unseres alltäglichen Lebens wie in Frage gestellt scheinen, möchte ich das Machtthema um einige Episoden aufschieben und heute stattdessen einen Evergreen vornehmen, der eigentlich keine Dramaturg*in und keine Theatebesucher*in kalt lassen kann: Es ist das Thema „Werktreue“.

Werktreue ist der Widerpart zum Regietheater, keine Diskussion über das das eine kommt ohne die andere aus. Darum habe ich eine Äußerung zu diesem Thema auch schon längst versprochen. Doch so nebulös der Begriff „Regietheater“ ist, sobald man ihn zu fassen sucht, als so amorph erweist sich auch die Werktreue, sobald man sucht, ihr mit Definitionen nahzukommen.

Bei der Werktreue beginnt es schon damit, dass der Begriff eine uralte Geschichte hat. Schon Schiller und Goethe schlugen sich damit herum. Dann ist die Idee womöglich stark geprägt durch Konventionen des Musiktheaters, wo die Werktreue einfacher zu konstatieren sein mag: Als Eingriff in das Werk gilt jede Änderung an der Partitur; wenn also Sprech- und Notentext gekürzt werden, wenn Tempi abgewandelt werden, dann beginnt eine Opernaufführung „nicht werkgetreu“ zu sein. Und das gilt schon für Partituren aus dem Barock, dem gegenüber stehen im Sprechtheater der Epoche die meist schlampigen Notate eines Shakespeare oder Goldoni, in denen wichtige Bühnenereignisse wie Pantomimen, Improvisationen, Interaktionen mit dem Publikum gar nicht dokumentiert werden und im glücklichen Fall nur durch mündliche Überlieferung überlebt haben. Im Film wiederum ist die Sache mit der Werktreue noch einfacher: Da das Kino – per Definition – so gut wie alles, was ein Buch enthalten kann, bebildern könnte (wenn es wollte), da es – dem gegenüber – aber gerade literarische Vorlagen durch Neuerfindung von Figuren und Szenen gerne umschreibt, gibt es bei Verfilmungen von Vorlagen meist starken Konsens in der Frage, wie werktreu oder werkungetreu diese geraten sind.

Das alles scheint nun beim Theater (Sprechtheater) nicht so einfach. Dabei gibt es theoretisch einen mehrere Jahrhunderte überspannenden Konsens der Theaterdenker von Johann Wolfgang Goethe bis Erika Fischer-Lichte: Bereits Goethe meinte – kurz gefasst – dass im Sprechtheater nicht die Literatur, sondern die Aufführung im Zentrum stehe. Fischer-Lichte deutscht das 1985 dahingehend aus, dass der Stücktext im Theater nicht als abgeschlossenes Werk gemeint ist, sondern eine Aufführung beabsichtigt. Was in beiden Fällen heißt: die Aufführung kann der Idee des Autors „treu“ bleiben, auch wenn Kürzungen, Veränderungen, Abänderungen am literarischen Text vorgenommen werden. Und umgekehrt: Die Aufführung kann die Idee der Vorlage verfehlen, auch wenn alle Worte in der originalen Reihenfolge ausgesprochen, alle Szenenanweisungen erfüllt werden. So weit, so gut. Und scheinbar haben wir das Problem damit vom Tisch. Wenn nicht der Schönheitsfehler bliebe, dass der Konsens über Werktreue im Sprechtheater eine riesige Definitionsunschärfe ließe, wann nun eine Aufführung demnach als werkgetreu und wann sie nicht als werktreu gelten darf. Wenn man in die Erklärung der Theaterwissenschaftler*innen genau hineinhört, kann man eigentlich nur festhalten, dass sie – von Goethe bis zur Postdramatik – das Thema Werktreue im Sprechtheater nicht so wichtig finden. Denn das Werk liegt auf der Bühne, nicht im Textbuch. Es lässt sich also leichter die Werktreue der Fernsehaufzeichnungen einer Theateraufführung ermitteln als die Werktreue der Theateraufführung eines klassischen Dramentextes.

Warum belasten wir uns überhaupt mit dem Begriff? Aber tun wir das? Nun gut, in vielen Aufführungsverträgen – das sind die Verträge, die die Rechtevertreter der Autoren mit den Theatern über Aufführungen ihrer Stücke abschließen (so die Autoren am Leben oder noch nicht länger als 70 Jahre tot sind) – in vielen Aufführungsverträgen also findet sich der Passus, dass ein Stück „werkgetreu zur Aufführung zu bringen sei“. Das heißt, selbst wenn die Theaterwissenschaftler*in das Thema Werktreue in der Theorie elegant in Luft auflösen kann, ist es nach deutscher Gerichtspraxis sogar justiziabel, also: nicht nichts. Wie sehr Theaterwissenschaft (und sogar deutsches Feuilleton) und deutsches Recht in diesem Punkte auseinanderklaffen, zeigte der Streit um die Münchner Inszenierung von Bert Brechts Stück „Baal“ durch den Regisseur Frank Castorf im Jahr 2015. Castorf hatte eigentlich nichts anderes getan als er seit 35 Jahren tut: Er hatte einen bekannten Stücktext durch allerlei Regieerfindungen und interessante Einlagen sowie durch zusätzliche Texte anderer Autoren auf eine Spieldauer von vielen Stunden ausgewalzt, und die Erben Bertolt Brechts taten nichts anderes als auch sie seit vielen Jahrzehnten taten: nämlich verlangen, dass eben dies bei Stücken ihres Autorenvaters zu unterlassen sei. Die Theater hatten diese Einstellung der Brecht-Erben jahrzehntelang belächelt, wenn es allerdings zum Schwur (zur Aufführung der Stücke Brechts) kam, immer nachgegeben und sich alle unerwünschten Zutaten verkniffen. Nicht so Castorf (und im Hintergrund der Münchner Intendant Martin Kusej, der die Aufführung ermöglicht hatte): Castorf erklärte (ganz nach Goethe) seine Aufführung zum Werkoriginal und untersagte seinerseits, sie in reduzierter (um seine Zutaten zu Brecht reduzierter) Form weiterzuspielen. Und hinter Castorf stand nicht nur sein Intendant, sondern das gesamte deutsche Kulturfeuilleton, das erklärte, so könne man nicht mit dem Werk eines Regiegenies wie Castorf umgehen. Die Aufführung wurde sogar – trotz des Rechtstreits – zum Theatertreffen in Berlin eingeladen. Sie durfte nur nicht mehr gezeigt werden. Denn „pacta sunt servanda“, selbst im deutschen Rechtssystem, und vor Gericht hat der Begriff der Werktreue offenbar mehr Bestand als im Boudior des deutschen Bildungsbürgers. Der Streit offenbarte jedoch auch, wie tief der Unglaube an Werktreue in der deutschsprachigen Theaterkultur reicht. Derselbe Unglaube erzwang schließlich sogar einen Vergleich mit den als unerbittlich geltenden Brecht-Erben: zwei letzte Aufführungen der inkriminierten Castorf-Inszenierung wurden schließlich doch gestattet. Eine in München und eine (auf besagtem Theatertreffen) in Berlin.

Nun könnte man der Meinung sein, in der Theaterszene (Sprechtheater) sei der Fall Werktreue eigentlich klar, ein paar Geisterfahrer bei dem Thema tummelten sich nur in Verlagen und Gerichten. Und genau so ist es nicht: Wer je ein Publikumsgespräch in einem deutschsprachigen Stadtheater im Anschluss an die Aufführung eines klassischen Dramas besucht hat, wird sich erinnern, dass etwa 50 Prozent der Fragen im weitesten Sinn darauf abzielen, ob die Aufführung, die man gesehen hat, im Einklang mit dem Text bzw. mit den Absichten des Autors, der Autorin steht. Aufgrund ihrer meist theaterwissenschaftlichen Vorbildung verstehen Dramaturg*innen diese Fragen häufig nicht und geben dann merkwürdige Antworten, die letztlich immer Paraphrasen der Goethe-Formel sind. So wird gern darauf verwiesen, dass schon Shakespeare seine eigenen Stücke um die Hälfte gekürzt aufgeführt hat. Oder: dass die Zuschauer noch heftiger reklamieren würden, würden die Schauspieler auf der Bühne aussehen wie zu Shakespeares Zeiten, der die Römer in den Römerdramen in elisabethanische Gewänder steckte. Ob die Zuschauer es wohl als werkgetreu empfinden würden, wenn Julius Cäsar in Pumphosen und Strumpfhosen erschiene? Und zuletzt der Klassiker: Die historische Situation, in die der Dramentext hineingeschrieben wurde, sei ja ohne weiteres nicht rekonstruierbar, das moderne Publikum habe andere Probleme als die Zeitgenossen des Dramatikers, würde mit anderen Augen schauen als das Publikum einer anderen Epoche. Und darum könne – in der Theorie – selbst eine Aufführung, die identisch mit der Uraufführung sei, nicht mehr den Bedeutungsgehalt dieser Uraufführung wiederherstellen.

Und wieder wurde das Problem endgültig gelöst.

Auf diesem Wege kommen wir also nicht weiter. Stellen wir die Gegenfrage: Was wollen denn die, die Werktreue wollen?

Sind sie nicht das eigentliche Unbewusste unseres Theaterbetriebs? Immer fordern sie die Werktreue, aber was sie damit meinen, bleibt – da von den Theoretikern negiert – auf merkwürdige Weise wortlos.

Am Sonntag, den 17. März 2005, zum Schillerjahr, formulierte der damalige deutsche Bundespräsident, Horst Köhler, im Berliner Theater am Schiffbauerdamm das Folgende:

„In dieser Situation, wo die Kenntnis der großen Stücke, auch eben Schillers, immer geringer wird, wo die Menschen, gerade die jungen Leute, wissbegierig und neugierig sind, diese Stücke erst einmal kennenzulernen, können die Theater ihre Anstrengungen ganz darauf konzentrieren, diese Stücke in ihrer Schönheit und Kraft, in ihrer Komplexität und ihrem Anspruch zu präsentieren.

Es hat gewiss eine Zeit lang einmal die Notwendigkeit gegeben, die Klassiker zu entstauben und zu problematisieren. Aber das heute immer noch fortzusetzen, erscheint mir wie der Ausweis einer neuen arroganten Spießigkeit. Ein ganzer Tell, ein ganzer Don Carlos! Das ist doch was!“ Schillers Werke hätten sich in Jahrzehnten nicht dagegen wehren können, „in Stücke zerlegt und nach Gutdünken wieder zusammengesetzt zu werden“. Man solle sie daher nicht länger auf „kleines Maß“ reduzieren.

Es erübrigt sich beinahe, darauf hinzuweisen, dass der bei der Rede anwesende Claus Peymann sich anschließend für die Freiheit der Kunst und insbesondere der Regisseur*innen aussprach.

Köhlers Ansprache wurde als Plädoyer für Werktreue verstanden. Darum wollen wir einmal nachschauen, was er sich von den Theatern wünschte:

1. Vorstellung der klassischen Literatur gegenüber einem Publikum, das nicht vertraut mit ihr ist: Da könnte nun tatsächlich etwas dran sein. In früheren Jahrhunderten konnten die Theater davon ausgehen, dass insbesondere die deutschsprachigen Klassiker ihrem Publikum bekannt waren wie die eigene Westentasche, weshalb Regisseur*innen in den Inszenierungen Kommentarebene auf Kommentarebene türmen konnten ohne fürchten zu müssen, dass der Zuschauer im Dunkeln tappt, worauf sich der Regiekommentar eigentlich bezieht, was im Stücktext an derselben Stelle „eigentlich“ verhandelt würde. Diese Art von Vorwissen beim Publikum können die Theater heute tatsächlich nicht in demselben Maß voraussetzen. Die Zuschauer, insbesondere junge Zuschauer, müssen durch das Spiel zugleich auch in die Stücke erstmal „eingeführt“ werden, wenn sie eine Chance haben wollen, irgendetwas zu verstehen.

2. Aufhören mit der „Problematisierung, der Entstaubung der Klassiker“: Was kann der gute Mann damit gemeint haben? Wahrscheinlich spielt er an auf etwas Ähnliches wie das, was ich unter dem letzten Punkt mit dem Auftürmen von Kommentarebenen meinte: Der Regisseur inszeniert seine kritische Einschätzung des Autors oder seines Werkes in das Stück hinein. Er erhebt sich also über die Ebene der Assistenz am Werk des Klassikers, über die Haltung einer bloßen Bewunderung des zu inszenierenden Stückes in den Rang eines Kritikers. Dies, so der Bundespräsident, verkomme unterdessen zum Ausdruck arrongater Spießigkeit. Man unterschätze bloß nicht: Berühmte Regisseur*innen wie Andrea Breth und Peter Stein (interessanterweise waren beide Direktor*innen der Berliner Schaubühne) geben in Interviews der letzten Jahre immer öfter an, sie verstünden sich als „Diener“, „Assistenten“ der Literatur und ihrer Urheber.

3. Stücke nicht zerlegen: Soll wohl heißen, nicht die Szeneabfolge verdrehen, Texte umstellen. Wahrscheinlich auch: keine Änderungen der Besetzung vornehmen, Figuren zusammenlegen, Geschlechter anders als vom Autor vorgesehen besetzen.

4. Stücke nicht auf „kleines Maß“ schrumpfen, die Stücke mit komplettem Text aufführen. Ein ganzer Tell! Tja. Das rekurriert nun einerseits auf die erste Forderung: die Klassiker in ihrer Gänze vorzustellen. Andererseits spricht sich der Sprecher offenbar gegen eine inhaltliche Schrumpfung und Verschlumpfung dieser Stücke aus. Damit dürfte gemeint sein, dass die Texte manchmal unterschätzt werden. Dass komplexe Charaktere und Beziehungen ohne Not vereinfacht würden, wodurch ein Verlust an Inhalten der Originaltexte entstehe. Das Argument ist nachvollziehbar, umgekehrt darf angemerkt werden, dass es mitunter gar nicht immer leicht ist, klassische Texte in ihrer ganzen Kompliziertheit ohne Kunstgriffe verständlich zu machen. (Ein beliebtes Beispiel sind die Briefe in „Don Carlos“: Wer nach dem dritten gefälschten Brief noch weiß, wer da wem geschrieben hat, gewinnt ein Premierenabonnement!) Hinsichtlich der Forderung nach integralen (also vollständigen) Textfassungen auf der Bühne muss die Frage erlaubt sein, ob Horst Köhler wirklich wusste, wie lang Schillers Stücke im jeweiligen Original tatsächlich sind. Der bereits erwähnte Peter Stein inszenierte dessen „Wallenstein“ (zugegeben: hat drei Teile) zwei Jahre nach dem Aufruf des Bundespräsidenten mit dem Berliner Ensemble in schlappen sieben Stunden. Das ist natürlich auch schön, kann aber im Repertoire eines Stadttheaters notgedrungen nur die Ausnahme darstellen. Und wer frühere Teile dieses Blogs gelesen hat, hat auch schon einmal davon gehört, dass die durchschnittliche Größe unserer Stadttheaterensembles es heute mit den klassischen Besetzungen der großen Schillerdramen nicht mehr aufnehmen kann. Allein „Wallensteins Lager“ fordert mehr Personen als ein normales Stadttheater noch zu bieten hat, und da ist noch nicht mal eine von den Hauptfiguren aufgetreten.

Habe ich damit wiederum die Werktreue-Debatte zu Staub zermahlen, sie weggelächelt? Nein. Köhlers Forderungen sind nicht durchweg abseitig und wirklichkeitsfremd (teilweise schon, aber nicht durchweg). Wurde sein Impuls im Jahr 2005 von der deutschsprachigen Theaterszene wie naiver Unfug aufgenommen, so tat er dennoch Wirkung. Wie bereits erwähnt: Der anwesende Intendant Claus Peymann, der noch in Köhlers Gegenwart den guten Mann auf der Bühne in den Senkel stellte, ließ zwei Jahre später den Regisseur Peter Stein an demselben Theater mit Schillers „Wallenstein“ eine modellmäßige Umsetzung der Köhler-Forderung besorgen. Ob das immer ein Reflex auf jenes Referat des Bundespräsidenten war, wird nicht zu überprüfen sein: In der Stadttheaterealität lässt sich bemerken, dass das Pendel vom Regietheater in den letzten Jahren deutlich wieder mehr in Richtung Werktreue (was immer das auch sein mag) schlug.

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