6 | Die Jahrtausendwende und das deutsche Stadttheater

WasmachenDramaturg:innen?

Ich versprach, mich heute mit dem Phänomen der Romanbearbeitung auf der Bühne zu befassen. Dabei waren wir gerade dabei, über Regietheater und Textfassung zu sprechen – in früheren Jahrhunderten hießen diese ja angeblich „Strichfassungen“.

Etwa weil die Änderungen am Originaltext sich auf bloße Kürzungen beschränkten? Eigentlich versuche ich immer noch herauszufinden, was Dramaturg*innen tun. Und Romanbearbeitungen sind eine Extremform der Textfassung, deren Erstellung zu den wichtigsten Aufgaben gehört, an denen Dramaturg*innen beteiligt sind. Wieso und seit wann aber sehen wir überhaupt so viele Romanbearbeitungen auf der Bühne? Diese Frage führt uns zurück in die Jahrzehnte vor und nach der Jahrtausendwende. Die Schließung des Berliner Schillertheaters im Jahr 1993 hatte Schockwellen der Verunsicherung in das deutschsprachige Stadttheater gesandt: Wenn das größte deutsche Schauspielhaus, noch dazu in der Hauptstadt Berlin, aus finanziellen Gründen geschlossen werden konnte, dann waren Dinge möglich, die das deutsche Sprechtheater sich in seiner Schulweisheit bis dahin nicht vorzustellen gewagt hatte.

Bis zu dem berüchtigten Tag der Schillertheater-Schließung konnte es in Deutschland auch einmal zum guten Ton gehören, vor nicht so vollen Rängen zu spielen. Einige Theatermacher sahen Abonnent*innen sogar als ihre Gegner*innen an. Aber auch Kritiker- und Publikumsgeschmack klafften mancherorts weit auseinander. Eine typische Legende dieser Zeit ist die Geschichte eines Intendanten in Hamburg, der sich an kleineren Häusern einen Ruf als unerschrockener Experimentierer und Bühnenerschütterer erworben hatte. In Hamburg leitete er nach der Jahrtausendwende eins der großen Sprechtheater und forderte sein Publikum mit derselben Verve heraus, die ihn berühmt gemacht hatte. Allein: als kurze Zeit vergangen war (zwei oder drei Jahre), gaben die Stadtväter zu erkennen, dass das alles schön und gut war, dass ihnen die Vorstellungen seines Theaters aber zu schütter besucht waren und sie daher seinen Intendanzvertrag nicht noch einmal verlängern wollten.

Bis hierher reicht die verbürgte Historie, nun folgt die Legende: Der Vater des Direktors, seinerseits ein altgedienter Stadttheaterintendant besuchte seinen Sohn, sah die Schwierigkeiten, nahm ein weißes Blatt Papier und schrieb 50 Stücktitel darauf. Er überreichte seinem Sohn das Blatt und bedeutete ihm, die darauf geschriebenen Titel für das weitere Programm seines Theaters bevorzugt in Betracht zu ziehen. Die Stücke auf der Liste entfalteten schon bald allein durch ihre Titel solche Zugkraft, dass ihr Verkauf bereits vor der jeweiligen Premiere (also ehe eine einzige Kritik verfasst war, ehe irgendjemand wissen konnte, ob ihm die Aufführung gefallen würde oder nicht) besser in Gang kam als der Verkauf der Stücke der Jahre zuvor. Und ob diese Geschichte nun Legende oder mehr ist: Über die Liste mit den 50 Titeln wurde danach am deutschsprachigen Stadttheater heftig spekuliert. Mancher hätte gerne ein Blick darauf geworfen. Insbesondere jedoch blieb hängen: dass sie der Legende nach nur 50 Titel enthielt, und – je nach Premierenzahl pro Spielzeit – entsprach das einem Pensum, das ein großes Sprechtheater in zwei oder drei Jahren abarbeiten konnte. Selbst wenn sich also ein Theater dazu entschlossen hätte, der berühmten Stückeliste hinterherzuspielen und damit seine Einschaltquoten in die Höhe zu treiben: Nach kurzer Zeit wären die goldenen Stücktitel verbraucht gewesen, und was wäre dann?

Ungefähr zu dieser Zeit sah man immer mehr Romanbearbeitungen auf deutschsprachigen Bühnen, auffällig vor allem in Form der „großen Russen“, die Frank Castorf in Berlin „auf die Bühne stemmte“, wie es hieß. Mindestens genauso folgenreich aber waren die Bearbeitungen großer Prosawerke einer anderen Berliner Truppe, die sich dabei eher auf berühmte nicht-russische Titel konzentrierte (wie „Lolita“, „Effie Briest“, „Berlin Alexanderplatz“ usw.) und die außerdem in dieser Zeit eine Ästhetik hervorbrachte, in der Klassiker gerne in kurzer Form gezeigt wurden (Spieldauer zwischen einer Stunde zwanzig und zwei Stunden – also eher das Gegenprogramm zu Frank Castorf), längere Abende hatten ihre Pause spätestens nach einer Stunde zwanzig, Text wurde laut und deutlich in Richtung Rampe gesprochen. Ich erwähne all diese Errungenschaften, weil sie zur gleichen Zeit am selben Ort auftraten und (abgesehen von künstlerischen Überlegungen) wohl auch einem schwer in Abrede zu stellenden gemeinsamen Ziel dienten: Publikum zurückzubringen.

Und auch die Hinwendung zum Bücherregal stand diesem Ziele nicht entgegen: Titel berühmter Romane (oder Filme) zogen – ähnlich wie die Titel großer Klassiker der Dramenliteratur (und auch wenn man die 50 Besten davon schon verbraucht hatte) – aus eigener Kraft Zuschauer an, messbar im Verkauf bereits vor der Premiere und insofern kann man sogar sagen: teilweise unabhängig vom künstlerischen Erfolg der jeweiligen Aufführung. Am Ende der Nuller-Jahre des 21. Jahrhunderts enthielten beinah alle Spielpläne deutschsprachiger Bühnen mehr Romanklassiker-Titel, dafür viel weniger Nebenwerke der tradierten Dramenliteratur (wie Grabbe, Lenz, Karl Philipp Moritz) als noch in den 80ern und 90ern. Und damit hätten wir zumindest mal eine Vermutung, woher diese Schwemme der Roman-Bearbeitungen kam. (Im nächsten Teil frage ich mich, was sie für den Theaterbetrieb bedeutet.)

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