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In was bemisst du ein Jahr deiner Zeit?

PremierenfieberRent

In der Nacht zum 25. Jänner 1996 starb Komponist und Autor Jonathan Larson im Alter von 35 Jahren durch eine Aortendissektion. Am gleichen Tag war in New York die erste Preview seiner Bohème– Adaption Rent angesetzt. Larson, der jahrelang unter prekären Bedingungen unerschütterlich seine Karriere als Musicalkomponist verfolgt hatte, konnte so seinen größten Erfolg nicht mehr miterleben. Rent wurde kurze Zeit nach seiner Uraufführung im New York Theatre Workshop an den Broadway transferiert und lief dort 12 Jahre ununterbrochen 5123-mal bis September 2008.

„Unsere Wohnung ist das, was in Rent auf der Bühne zu sehen ist“, erinnert sich in einem Playbill Special Feature Jonathan Burkhart, der in den 1980er Jahren mit Jonathan Larson in einem Loft in SoHo lebte. „Wir hatten nur ein einziges Verlängerungskabel, das sich durch die ganze Wohnung zog. Es gab außer dem Backofen keine Heizung, die Dusche war in der Küche, der Boden war total kaputt, und manche Dielen waren so morsch, dass sie heraussprangen, wenn man auf sie trat. Es war ein einziges Chaos.“ Über Larson berichtet er: „Jahrelang war er völlig pleite. Er gestaltete sein Leben so, dass er gerade genug hatte, um die Miete zu zahlen und zu komponieren.“

Jahre später erstand das Loft mit allen Details auf der Bühne des New York Theatre Workshop wieder: Rock’n’Roll-Poster an den Wänden, Klappstühle, Metalltische und das besagte Verlängerungskabel. Die beiden Hauptfiguren in Rent, Songwriter Roger und Filmemacher Mark, sind einerseits an die Bohème-Figuren Rodolfo und Marcello angelehnt, weisen aber andererseits deutliche Parallelen zu den beiden Jonathans, Larson und Burkhart, auf.

SEINE HAARE STANDEN IN ALLE RICHTUNGEN

Heute wird Rent als originäres Werk von Jonathan Larson betrachtet. Die Idee zu Rent hatte jedoch ein anderer: Der Yale-Absolvent Billy Aronson zog 1983 nach New York und verbrachte seine Freizeit oft im Lincoln Center, wo er sich Opern ansah. Dort kam ihm die Idee für eine moderne Adaption von Puccinis La Bohème: „Es sollte etwas für unsere Generation sein, mit einer gewissen Ruhelosigkeit, die das Gegenteil des Bohème-Lebensgefühls war: nicht süßlich, nicht schwelgerisch. Da ich keine Musik schreibe, suchte ich nach einem Komponisten.“ Jemand empfahl ihm den jungen Jonathan Larson – das erste Treffen fand in Larsons Wohnung im West Village statt. „Er war ein bisschen chaotisch. Seine Haare standen in alle Richtungen, und er sprühte vor Leidenschaft.“

Aronson und Larson begannen zusammen an Rent zu arbeiten. „Das könnte ein neues Hair werden“, meinte Larson gleich zu Beginn. „Ich warte schon lange darauf, die MTV-Generation ins Theater zu bringen.“ Gemeinsam schrieben sie drei Songs, „Rent“, „Santa Fe“ und „I Should Tell You“. Als für ein Demoband 600 Dollar fällig wurden, verlor Aronson das Vertrauen in das Projekt: „Ich dachte: ‚Wir werden damit wahrscheinlich nie Geld verdienen, und ich kenne den Typen nicht mal besonders gut. Das ist Geldverschwendung.‘“ Ab diesem Zeitpunkt arbeitete Larson allein an Rent, während sich Aronson gegen eine Erlösbeteiligung aus dem Projekt zurückzog.

„WAS MUSS ICH TUN?“

Als der New York Theatre Workshop (NYTW) 1992 in ein neues Zuhause zog, fuhr Larson mit dem Rad dorthin. Er fand, es sei perfekt für eine Produktion von Rent. Zufälligerweise suchte James C. Nicola, Künstlerischer Leiter des NYTW, gerade nach einem Stück. „Es war ein glücklicher Zufall“, erzählt Nicola. „Jonathan steckte seinen Kopf herein und: ‚Das hier wäre der perfekte Ort für mein neues Musical. Was muss ich tun?‘ Ein Skript und eine Kassette, auf der Jonathan E Piano spielte und dazu sang, waren meine erste Begegnung mit Rent. Schon beim ersten Anhören war mir klar, dass dies genau das war, wonach wir suchten – ein Projekt über das East Village, über die jungen Leute, die damals hier lebten, und ihre Probleme und Sehnsüchte.“

Bei einem Reading 1994 war der Broadway-Produzent Kevin McCollum (der später übrigens Something Rotten! produzierte) zugegen. In der Pause wurde er Jonathan Larson vorgestellt und konnte seine Begeisterung nicht verbergen: „Ich sagte: ‚Ich liebe es! Ich LIEBE es! Ich habe meinen Scheckblock dabei! Wie viel brauchst du? Ich verstehe zwar nicht alles, was auf der Bühne zu sehen ist, aber es hat so viel Energie. Wir sollten versuchen, etwas daraus zu machen!‘ Später meinte mein Partner Jeffrey Seller nur trocken: ‚Du hast den Verstand verloren.‘“ 1996 wurde im NYTW Rent tatsächlich von McCollum, Seller und Allan S. Gordon produziert.

Jonathan Larson war während der Endproben krank, es waren grippeähnliche Symptome. Erst zur Generalprobe war er zugegen, und alle atmeten auf, dass es ihm endlich besser ging. Am Morgen danach war ein Produktionsmeeting im Time Café geplant, bei dem Regisseur Michael Greif, der Musikalische Leiter Tim Weil, die Dramaturgin Lynn Thomson und NYTW-Leiter Jim Nicola die weiteren Schritte während der Preview-Vorstellungen planen wollten. Kurz vorher ereilte sie die tragische Nachricht: Jonathan Larson war in der Nacht gestorben.

WIR MÜSSEN SPIELEN!

Das Team war unter Schock. Aber natürlich musste eine Entscheidung gefällt werden, wie es weitergeht. Den Ausschlag gaben Jonathan Larsons Eltern. Sein Vater Al sagte: „Die Show findet heute Abend statt. Wir müssen spielen. Sie darf nicht storniert werden.“ Produzent McCollum erinnert sich, dass er und sein Partner durch einen Park gingen und sich versicherten: „Wir wissen nicht, warum er tot ist. Wir wissen gar nichts. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Welt nicht erfährt, wer dieser Mann war …“

Aber Regisseur Michael Greif entschied, dass die Preview an diesem Abend ohne jegliche szenische Inszenierung stattfinden sollte, um den jungen Komponisten zu würdigen. Doch im Finale des ersten Aktes geschah etwas Magisches: Das Ensemble fing bei „La Vie Bohème“ an zu tanzen, und dann spielten alle den zweiten Akt so, wie er inszeniert worden war. „Als wir uns der Pause näherten“, erzählt Jim Nicola, „rebellierte das Ensemble einfach. Die Gruppe feierte das Andenken Jonathan Larsons mit Musik, Gesang und Tanz, ohne sich vorher abgesprochen zu haben.“

WIE WÄR’S MIT LIEBE?

Danach entwickelten sich die Dinge rasant. Nach seiner Laufzeit am New York Theatre Workshop zog Rent ins Nederlander Theatre um und hatte dort am 16. April 1996 seine erste Preview. Die Broadway-Premiere folgte nur 13 Tage später, am 29. April.

„How do you measure a year in the life?“ – „In was bemisst du ein Jahr deiner Zeit?“, fragt Jonathan Larson im Opening-Song des zweiten Akts, „Seasons of Love“. Und liefert seinen Vorschlag einer Antwort gleich mit: „How about love?“ – „Wie wär’s mit Liebe?“

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