49 | The Big Picture

WasmachenDramaturg:innen?

Der Filmregisseur Billy Wilder, der ursprünglich Drehbuchautor war, sagte einmal, er erwarte nicht von Regisseuren, dass sie selbst Drehbücher verfassen können. Es würde ihm schon reichen, wenn sie in der Lage wären, Drehbücher zu lesen.

In Analogie dazu könnte man sich eine Regisseur:in vorstellen, die von Dramaturg:innen nicht etwa verlangt, dass diese selber inszenieren können, wenn sie nur in der Lage sind, Inszenierungen zu sehen.

Unter all den Aufgaben der Dramaturg:innen, die wir hier schon aufgezählt haben, ragt das Sehen heraus. Sprich: das Ansehen und Sehen von Inszenierungen. Aus der Perspektive des Theatermachens ist dies Sehen der Dramaturg:innen besonders an zwei Stellen gefordert: Beim Ansehen der Inszenierungen anderer Theater und fremder Regisseur:innen. Und beim Betrachten eigener Produktionen, in der Regel, ehe sie Premiere haben, als betriebsinterne Hilfestellung und Kritik.

Nun ist das mit dem Sehen im Theater eine zweischneidige Angelegenheit. Nicht umsonst werden gerade die, die sehen wollen, in einer Reihe von Theaterklassikern, die sich dem Thema widmen, mit Blindheit geschlagen: So in König Ödipus, Die Wildente, Endspiel usw. Der Sehende ist der Blinde und umgekehrt. Und das gilt natürlich auch für Dramaturg:innen.

Nun beunruhigt eine echte Dramaturg:in das nicht sehr. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Nichts kann schöner sein, als der eigenen großen Irrtümer und Fehleinschätzungen zu gedenken.

Professionelles Sehen ist eben ein Handwerk. Oder eine Kunst.

Fangen wir mit dem Handwerk an: Handwerkliches Sehen im Theater arbeitet mit eindeutigen Messwerten. Hat man die im Auge, kann schon nicht mehr alles schiefgehen. Welche sind diese kostbaren Messwerte? (Natürlich sollte derartiges Wissen nur von Druidenmund zu Druidenohr wandern, darum geben wir hier einen leicht verfälschten Ausschnitt – trotzdem sollte er die generelle Idee wiedergeben:) Können alle Zuschauer:innen alle Vorgänge auf der Bühne sehen? Können sie alle Worte hören? Verstehen sie die Handlung? Wie lang dauert eine Aufführung? Wie lang geht es bis zur Pause? Ist der Abend kurzweilig? Wie viele Tickets werden verkauft? Wie sind die Kritiken? Gibt es Auszeichnungen? Nicht alle dieser Messwerte sind vor der Premiere zu erheben. Aber irgendwann einmal, in der Vergangenheit, als ein normales Stadttheater mit nur einem Dramaturgen auskam, reichten diese Daten, um die Qualität des Repertoires zu sichern.

Spätestens seitdem das deutschsprachige Stadttheater wenigstens einmal seine eigene Abschaffung überlebt hat, kann es sich nun mit dem reinen „Funktionieren“ nicht mehr zufriedengeben, sondern muss verstehen, was da überhaupt funktioniert und ob womöglich kürzlich die Spielregeln geändert wurden.

Kommen wir daher zur Kunst des Sehens, bzw. zum Sehen als Kunst:

Da gibt es zwei grundsätzliche Möglichkeiten: 1. Man versucht, das Sehen von allen Hindernissen zu befreien, die die Sicht der Dramaturg:in einzuschränken drohen. 2. Man entwickelt bereits vor dem Akt des Sehens eine Vorstellung davon, was eigentlich zu sehen sein sollte und nach diesem hält man Ausschau.

Zu 1: Die Abschaffung von Sichtbehinderungen. Das ist die ungleich schwerere Aufgabe, weil die Dramaturg:in sich dazu selbst in den Blick bekommen muss. Herausfinden muss, was sie selbst als Betrachter:in dem Gesehenen hinzufügt. Hierzu gibt es alle möglichen Techniken, beginnend bei Meditation und Atemübungen und nicht endend bei Techniken der absichtlichen Selbstirritation, mutwilliger Änderung von Gewohnheiten, innerlichen Loslassens etc.

Zu 2: Vorher bereits wissen, was da eigentlich zu sehen ist oder zu sehen sein sollte. Wenn man es so hinschreibt, klingt es relativ behämmert. Aber Achtung: Ein großer Teil aller Theaterarbeit basiert genau darauf. Dass es bereits Weltanschauungen und Denkfiguren gibt, die für wert gehalten werden, im Theater dargestellt zu sein. Und wenn man die im theatralischen Ereignis dann nicht wiederfindet, ist es kein Theater. Für die meisten Theatermacher:innen ist es daher nicht die Frage, ob man eine bereits existierende Weltanschauung bebildert, sondern: welche.

Streng logisch stehen diese beiden Herangehensweisen in einem Widerspruch: Eine bereits existierende Idee, von dem, was zu sehen sein wird, ist naturgemäß die Sichtbehinderung par excellence. Dennoch verwenden beinah alle Dramaturg:innen beide Methoden in Kombination.

Denn wer keine Weltanschauung hat, wird zum Theater gar nicht zugelassen (der wäre ja auch ein weltanschauungsloser Schuft). Nachdem wir aber deren Denkfiguren bereits in uns tragen, versuchen wir, sie im Theater zu bemerken, also: uns selbst besser zu verstehen.

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