Seine Aufmerksamkeit ist nahezu überall. Naturgemäß am stärksten bei den Ereignissen auf der Bühne, die in den Augen unseres Dramaturgen aber irgendwie doppelt belichtet wirken – durch eine Art Film, der während der Proben zu dem Stück im Kopf des Dramaturgen entstanden zu sein scheint und nun gleichzeitig mit der tatsächlich stattfindenden Aufführung vor ihm abläuft: Über dem Bild der Schauspieler:innen das Bild (und der Ton) der jeweiligen Szene auf den Proben. Und mehr als Bilder von den Proben das Ideal eines perfekten Ablaufs jeder Szene, das sich auf den Proben herauskristallisiert hat. Wo es leicht und leise gehen sollte, wo emotional und insistierend. Soeben vergeigt einer der Schauspieler seine erste Pointe, indem er eine komische Erzählung mit dem Ende anfängt. Der Witz verpufft ohne Effekt, doch dann kommt noch der ganze Rest des Texts, der nun kein Ziel mehr hat. Das Publikum muss merken, dass hier etwas nicht stimmt. Durchstreichen und weitergehen. Der Dramaturg wartet auf den nächsten Effekt.
Neben ihm sitzt seine Freundin, die an einem anderen Theater arbeitet. Sie schaut nicht unbedingt gebannt zur Bühne. Vermutlich stört sie, dass sie beinah in der letzten Reihe sitzt.
Es ist ein Stück von Anton Tschechow, dessen Werke sich im deutschen Stadttheater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Stützen des Repertoires erwiesen haben. In der Nachwirkung der Berliner Schaubühne unter dem Regisseur Peter Stein befindet sich dies Stadttheater in den 90ern im Banne einer neuen Texttreue. Jede Regisseur:in versucht, die Stücke der Weltliteratur noch besser zu verstehen als ihre Kolleg:innen. Solang sie sagen kann: „In Wahrheit steht dort das und das. Das war es, was Tschechow meinte … übrigens handelt es sich hier um Spätfolgen des Dekabristenaufstandes von 1825 …“, solange kann sie inszenieren, was sie will. Und es ist erstaunlich, was die Regisseur:innen da alles finden. Zu Beginn der Nullerjahre stellt Tschechow an die Regisseur:innen jedoch ganz andere Fragen: 1. Ist es eine Tragödie? Ist es eine Komödie? – Die Antwort ist glücklicherweise einfach. Zu Beginn der Nuller-Jahre lautet sie stets: Es ist eine Komödie. Noch besser: eine Farce. Wenn auch (vielleicht) tragikomisch.
Und Frage Nummer 2: Wie umgehen mit dem Realismus? Nachdem Peter Stein mit seinen Tschechow-Inszenierungen den Weltrekord im Bühnen-Realismus aufgestellt hatte, schwingt auch hier das Pendel in den frühen Nuller-Jahren zurück: Wenn Tschechow schon Komödien geschrieben hat, dann ertragen sie auch eine starke Form – sagen wir ruhig: Künstlichkeit.
Das Regieteam unseres jungen Dramaturgen hat den zu bekämpfenden Realismus nun vor allem in der Dialogkunst Tschechows ausgemacht: Die ersten beiden Akte zeigen uns die Nachmittage eines untätigen Landadels. Es wird Tee getrunken (manchmal schärfere Getränke) und Konversation gemacht. In der Konversation geht es um den Zusammenhang von Langeweile und Verzweiflungstaten. Währenddessen gehen die sprechenden Figuren raus und rein, vom Salon in den Garten, vom Garten in den Salon. Dieses gute alte Rein-Raus-Spiel wird nun von dem Regisseur als Ornament erkannt, als formaler Schnörkel im Gewand des Realismus: Weg damit! Stattdessen aufgeräumt: Der ganze Dialog wird neu sortiert, verschlagwortet und – unter den Überschriften dieser Schlagworte – in die Form eigener Kapitel gebracht. Kapitel 1: Geld. Kapitel 2: Heiraten. Kapitel 3: Langeweile. Und so weiter. Die Figuren gehen natürlich nicht mehr rein und raus, sondern bleiben stehen (oder sitzen), wo sie stehen (oder sitzen). Seht her, was Tschechow alles aushält! Und wie schön wir aufgeräumt haben. Die jungen Regie-Künstler:innen haben alles angestellt, um „Hier!“ zu schreien. „Hier sind wir! Wir haben auch etwas gemacht. Und nicht nur zugesehen!“ Sie haben das Porzellan aus der Vitrine geholt und begonnen, damit zu jonglieren. Wird es fallen? Der junge Dramaturg ist aufgeregt. So sehr hat er im Text herumgefuhrwerkt, Szenen umgebaut, versucht, bestimmte Argumentationen zu erhalten, Sinnspitzen zu retten oder Neue zu kreieren. Jetzt hängt er mit drin. Sollte alles das noch einen Sinn ergeben, sollte es dem Publikum gefallen, kommt er mit aufs Siegertreppchen. Sollte Tschechows Porzellan zu Boden fallen und zerspringen, gehört er zu den Schuldigen.
Um im Bild des durch die Luft fliegenden Geschirrs zu bleiben: Am Boden liegt zum Glück ein dicker Teppich der Schauspielkunst. Solang nur ein paar Tassen fallen, muss noch nichts zu Bruch gehen. Die Schauspieler allein mit den aus dem Zusammenhang gerissenen Tschechow-Sätzen sind noch immer abendfüllend und unterhaltsam. Dennoch sitzt der Dramaturg auf der Vorderkante seines Klappsitzes und fiebert mit dem Gang des – neu gebauten – Dialogs. Verstehen ihn die Leute? Reagieren sie? Jetzt kommt eine – das wusste er schon vorher – anstrengende Szene, in der nicht viel passiert. Ein junger Schauspieler muss eine ältere Figur spielen, macht zu viel, kann seine Wirkung nicht dosieren. Aber gleich darauf kommt ein Filetstück: Zwei Protagonisten spielen sich die Bälle zu. Der Dramaturg weiß vorher schon, da geht die Stimmung wieder rauf.
In dem Moment beginnt zwei Reihen vor unserem jungen Mann jemand zu husten. Er zerhustet den Beginn der Szene. Man versteht noch, was passiert, aber der Effekt stellt sich nicht ein. Wenigstens ist das der Eindruck unseres Dramaturgen. Der Huster hört aber nicht auf. Man könnte meinen, dass er jetzt langsam hinausgehen sollte, um sich draußen auszuhusten. Doch der Huster scheint sich in den Kopf gesetzt zu haben, das, was ihm im Halse steckt, hier drinnen loszuwerden. Oben spielen die Schauspieler gegen den Störer an. Der Dramaturg versucht nun zu erkennen, wo der Huster sitzt. Dabei entdeckt der, dass das ein Kollege aus dem eigenen Ensemble ist. Er steht nur deshalb nicht mit auf der Bühne, weil er in der Inszenierung nicht besetzt ist. Unser Dramaturg verfällt in tiefes Nachdenken. Wie kann ein Schauspieler des eigenen Ensembles so gedankenlos sein? Bemerkt er nicht, dass er die ganze Aufführung zerhustet?
Das Problem der großen Klassiker ist, dass sie auch dann gespielt werden, wenn sich die Künstler:innen eigentlich gar nicht für deren Geschichte interessieren. Insbesondere dann nicht, wenn sie sich nicht sicher sind, worum es in dieser Geschichte genau geht. Denn auch dann haben die Klassiker noch tolle Rollen und das Publikum schaut sich die Inszenierungen gern an. Der frühe Tschechow, der an diesem Abend zu Beginn unseres Jahrhunderts auf dem Programm steht, erzählt die Geschichte eines Depressiven in einer langweiligen Provinzgesellschaft. Man könnte sagen: Ein bisschen Grau in Grau. Oder Schwarz in Schwarz.
Das ist aber nicht, was unsere jungen Künstler:innen suchen. Sie haben das Stück mit allen Stars besetzt, die ihr Provinztheater aufzubieten hat. Sie haben es mit Live-Musik, Live-Video und -Projektion versehen. Sie haben versucht, es glamourös zu machen. Aus den trostlosesten Szenen Spaß zu ziehen, auch wenn der da gar nicht drin war. Unser Dramaturg schaut wieder zu seiner Freundin, die sich gerade die Bluse vom Oberkörper wegzupft, denn der Beleuchter hat den Bühnenraum mit Batterien von Scheinwerfern illuminiert wie einen Gletscher in der Mittagssonne – mit entsprechendem klimatischem Effekt auf das Publikum.
Auf der Bühne hebt ein älterer Schauspieler nun zum Monolog des bankrotten Onkels an, der verzweifelt Geld sucht, um aus der Provinz nach Petersburg zu fliehen. Einmal will er noch etwas erleben, wenn er dann verhungert, ist es ihm egal. Unser Dramaturg hat diesen Schauspieler in den vergangenen Jahren kennen gelernt, er weiß, dass der sich nicht verstellen muss. Er erzählt mit Tschechows Worten seine eigene Geschichte.
Und plötzlich ist es so, als bliebe der Film im Projektor hängen und brenne durch. Ein Loch im Bild entsteht und für einen Augenblick sieht unser Kollege durch dies Loch einen schwitzenden und tönenden Organismus vor sich, mit Armen und mit Beinen, die sich spreizen. Und der Dramaturg versteht nicht, was das ist. Warum sieht der Mensch so aus? Wozu ist es gut? Warum schauen wir das an? Und er bemerkt seine eigenes Nicht-Verstehen.