47 | Sehen

WasmachenDramaturg:innen?

Es ist zu Beginn der Nullerjahre unseres Jahrhunderts, als ein junger Dramaturg – er trägt den Titel erst seit ein paar Jahren –, in der Premiere einer Inszenierung sitzt, die er als Dramaturg betreuen durfte. Die Vorstellung läuft seit ein paar Minuten, der Dramaturg sitzt in einer der letzten Reihen des Theaters, vor sich das Schauspiel und sein Publikum.

Seine Aufmerksamkeit ist nahezu überall. Naturgemäß am stärksten bei den Ereignissen auf der Bühne, die in den Augen unseres Dramaturgen aber irgendwie doppelt belichtet wirken – durch eine Art Film, der während der Proben zu dem Stück im Kopf des Dramaturgen entstanden zu sein scheint und nun gleichzeitig mit der tatsächlich stattfindenden Aufführung vor ihm abläuft: Über dem Bild der Schauspieler:innen das Bild (und der Ton) der jeweiligen Szene auf den Proben. Und mehr als Bilder von den Proben das Ideal eines perfekten Ablaufs jeder Szene, das sich auf den Proben herauskristallisiert hat. Wo es leicht und leise gehen sollte, wo emotional und insistierend. Soeben vergeigt einer der Schauspieler seine erste Pointe, indem er eine komische Erzählung mit dem Ende anfängt. Der Witz verpufft ohne Effekt, doch dann kommt noch der ganze Rest des Texts, der nun kein Ziel mehr hat. Das Publikum muss merken, dass hier etwas nicht stimmt. Durchstreichen und weitergehen. Der Dramaturg wartet auf den nächsten Effekt.
Neben ihm sitzt seine Freundin, die an einem anderen Theater arbeitet. Sie schaut nicht unbedingt gebannt zur Bühne. Vermutlich stört sie, dass sie beinah in der letzten Reihe sitzt.

Es ist ein Stück von Anton Tschechow, dessen Werke sich im deutschen Stadttheater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Stützen des Repertoires erwiesen haben. In der Nachwirkung der Berliner Schaubühne unter dem Regisseur Peter Stein befindet sich dies Stadttheater in den 90ern im Banne einer neuen Texttreue. Jede Regisseur:in versucht, die Stücke der Weltliteratur noch besser zu verstehen als ihre Kolleg:innen. Solang sie sagen kann: „In Wahrheit steht dort das und das. Das war es, was Tschechow meinte … übrigens handelt es sich hier um Spätfolgen des Dekabristenaufstandes von 1825 …“, solange kann sie inszenieren, was sie will. Und es ist erstaunlich, was die Regisseur:innen da alles finden. Zu Beginn der Nullerjahre stellt Tschechow an die Regisseur:innen jedoch ganz andere Fragen: 1. Ist es eine Tragödie? Ist es eine Komödie? – Die Antwort ist glücklicherweise einfach. Zu Beginn der Nuller-Jahre lautet sie stets: Es ist eine Komödie. Noch besser: eine Farce. Wenn auch (vielleicht) tragikomisch.
Und Frage Nummer 2: Wie umgehen mit dem Realismus? Nachdem Peter Stein mit seinen Tschechow-Inszenierungen den Weltrekord im Bühnen-Realismus aufgestellt hatte, schwingt auch hier das Pendel in den frühen Nuller-Jahren zurück: Wenn Tschechow schon Komödien geschrieben hat, dann ertragen sie auch eine starke Form – sagen wir ruhig: Künstlichkeit.

Das Regieteam unseres jungen Dramaturgen hat den zu bekämpfenden Realismus nun vor allem in der Dialogkunst Tschechows ausgemacht: Die ersten beiden Akte zeigen uns die Nachmittage eines untätigen Landadels. Es wird Tee getrunken (manchmal schärfere Getränke) und Konversation gemacht. In der Konversation geht es um den Zusammenhang von Langeweile und Verzweiflungstaten. Währenddessen gehen die sprechenden Figuren raus und rein, vom Salon in den Garten, vom Garten in den Salon. Dieses gute alte Rein-Raus-Spiel wird nun von dem Regisseur als Ornament erkannt, als formaler Schnörkel im Gewand des Realismus: Weg damit! Stattdessen aufgeräumt: Der ganze Dialog wird neu sortiert, verschlagwortet und – unter den Überschriften dieser Schlagworte – in die Form eigener Kapitel gebracht. Kapitel 1: Geld. Kapitel 2: Heiraten. Kapitel 3: Langeweile. Und so weiter. Die Figuren gehen natürlich nicht mehr rein und raus, sondern bleiben stehen (oder sitzen), wo sie stehen (oder sitzen). Seht her, was Tschechow alles aushält! Und wie schön wir aufgeräumt haben. Die jungen Regie-Künstler:innen haben alles angestellt, um „Hier!“ zu schreien. „Hier sind wir! Wir haben auch etwas gemacht. Und nicht nur zugesehen!“ Sie haben das Porzellan aus der Vitrine geholt und begonnen, damit zu jonglieren. Wird es fallen? Der junge Dramaturg ist aufgeregt. So sehr hat er im Text herumgefuhrwerkt, Szenen umgebaut, versucht, bestimmte Argumentationen zu erhalten, Sinnspitzen zu retten oder Neue zu kreieren. Jetzt hängt er mit drin. Sollte alles das noch einen Sinn ergeben, sollte es dem Publikum gefallen, kommt er mit aufs Siegertreppchen. Sollte Tschechows Porzellan zu Boden fallen und zerspringen, gehört er zu den Schuldigen.
Um im Bild des durch die Luft fliegenden Geschirrs zu bleiben: Am Boden liegt zum Glück ein dicker Teppich der Schauspielkunst. Solang nur ein paar Tassen fallen, muss noch nichts zu Bruch gehen. Die Schauspieler allein mit den aus dem Zusammenhang gerissenen Tschechow-Sätzen sind noch immer abendfüllend und unterhaltsam. Dennoch sitzt der Dramaturg auf der Vorderkante seines Klappsitzes und fiebert mit dem Gang des – neu gebauten – Dialogs. Verstehen ihn die Leute? Reagieren sie? Jetzt kommt eine – das wusste er schon vorher – anstrengende Szene, in der nicht viel passiert. Ein junger Schauspieler muss eine ältere Figur spielen, macht zu viel, kann seine Wirkung nicht dosieren. Aber gleich darauf kommt ein Filetstück: Zwei Protagonisten spielen sich die Bälle zu. Der Dramaturg weiß vorher schon, da geht die Stimmung wieder rauf.
In dem Moment beginnt zwei Reihen vor unserem jungen Mann jemand zu husten. Er zerhustet den Beginn der Szene. Man versteht noch, was passiert, aber der Effekt stellt sich nicht ein. Wenigstens ist das der Eindruck unseres Dramaturgen. Der Huster hört aber nicht auf. Man könnte meinen, dass er jetzt langsam hinausgehen sollte, um sich draußen auszuhusten. Doch der Huster scheint sich in den Kopf gesetzt zu haben, das, was ihm im Halse steckt, hier drinnen loszuwerden. Oben spielen die Schauspieler gegen den Störer an. Der Dramaturg versucht nun zu erkennen, wo der Huster sitzt. Dabei entdeckt der, dass das ein Kollege aus dem eigenen Ensemble ist. Er steht nur deshalb nicht mit auf der Bühne, weil er in der Inszenierung nicht besetzt ist. Unser Dramaturg verfällt in tiefes Nachdenken. Wie kann ein Schauspieler des eigenen Ensembles so gedankenlos sein? Bemerkt er nicht, dass er die ganze Aufführung zerhustet?

Das Problem der großen Klassiker ist, dass sie auch dann gespielt werden, wenn sich die Künstler:innen eigentlich gar nicht für deren Geschichte interessieren. Insbesondere dann nicht, wenn sie sich nicht sicher sind, worum es in dieser Geschichte genau geht. Denn auch dann haben die Klassiker noch tolle Rollen und das Publikum schaut sich die Inszenierungen gern an. Der frühe Tschechow, der an diesem Abend zu Beginn unseres Jahrhunderts auf dem Programm steht, erzählt die Geschichte eines Depressiven in einer langweiligen Provinzgesellschaft. Man könnte sagen: Ein bisschen Grau in Grau. Oder Schwarz in Schwarz.
Das ist aber nicht, was unsere jungen Künstler:innen suchen. Sie haben das Stück mit allen Stars besetzt, die ihr Provinztheater aufzubieten hat. Sie haben es mit Live-Musik, Live-Video und -Projektion versehen. Sie haben versucht, es glamourös zu machen. Aus den trostlosesten Szenen Spaß zu ziehen, auch wenn der da gar nicht drin war. Unser Dramaturg schaut wieder zu seiner Freundin, die sich gerade die Bluse vom Oberkörper wegzupft, denn der Beleuchter hat den Bühnenraum mit Batterien von Scheinwerfern illuminiert wie einen Gletscher in der Mittagssonne – mit entsprechendem klimatischem Effekt auf das Publikum.
Auf der Bühne hebt ein älterer Schauspieler nun zum Monolog des bankrotten Onkels an, der verzweifelt Geld sucht, um aus der Provinz nach Petersburg zu fliehen. Einmal will er noch etwas erleben, wenn er dann verhungert, ist es ihm egal. Unser Dramaturg hat diesen Schauspieler in den vergangenen Jahren kennen gelernt, er weiß, dass der sich nicht verstellen muss. Er erzählt mit Tschechows Worten seine eigene Geschichte.

Und plötzlich ist es so, als bliebe der Film im Projektor hängen und brenne durch. Ein Loch im Bild entsteht und für einen Augenblick sieht unser Kollege durch dies Loch einen schwitzenden und tönenden Organismus vor sich, mit Armen und mit Beinen, die sich spreizen. Und der Dramaturg versteht nicht, was das ist. Warum sieht der Mensch so aus? Wozu ist es gut? Warum schauen wir das an? Und er bemerkt seine eigenes Nicht-Verstehen.

Weitere Themen

Viel Lärm um nichts Ensemble
SchauspielTeaserSchauspielhaus

Aus dem Reich der Freiheit

Zum fulminanten Beginn der neuen Spielzeit im Schauspiel gab es nicht nur bei unserem Theaterfest Viel Lärm um das Theater und die Liebe. Seit 14. September ist William Shakespeares Viel Lärm um nichts in der Inszenierung unseres neuen Schauspieldirektors David Bösch im Schauspielhaus zu erleben. Dramaturg Martin Mader gibt Einblicke in die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Tragödie und Komödie. Und wie beide in den Werken William Shakespeares nicht ohne einander auskommen.

VielLärmUmNichtsPremierenfieber
Trilogie der Sommerfrische
SchauspielTeaserSchauspielhaus

Blind Date in der Sommerfrische

Der Dichter Franzobel stammt, so gibt er selbst es an, aus dem Arbeitermilieu, der Vater arbeitete im Chemiewerk, der Urgroßvater war Bierausfahrer (der Großvater betrieb immerhin ein eigenes Tapeziergeschäft). Der Dramatiker Carlo Goldoni, ein Arztsohn aus Venedig, kommt oberflächlich gesehen aus flamboyanteren Verhältnissen. Auch wenn die Familie erst zwei Generationen vor ihm – durch Heirat – zu Geld gekommen war, es zwischenzeitlich allerdings wieder verloren hatte.

PremierenfieberTrilogieDerSommerfrische
Der diskrete Charme der Bourgeoisie
SchauspielSchauspielhaus

Die Frau mit den vielen Begabungen

Mit Anna Marboe ist es so: Wenn sie einen Raum betritt, füllt er sich mit positiver Energie. Und sie muss viel davon haben. Denn wenn man mit der 27-Jährigen telefoniert, ist sie meist unterwegs und steckt in irgendeinem Zug auf dem Weg zur nächsten Probe oder zum nächsten Konzert. Und auch ansonsten kann es einem leicht einmal passieren, dass sie verblüffend selbstverständlich an den unterschiedlichsten Orten (gleichzeitig?) auftauchen kann.

DerdiskreteCharmederBourgeoisiePremierenfieber
Fischer Fritz
SchauspielSchauspielhaus

Fischer Fritz wurde beim 41. Heidelberger Stückemarkt mit dem Nachspielpreis ausgezeichnet!

Die 41. Ausgabe des Heidelberger Stückemarkts, eines der renommiertesten Festivals für Gegenwartsdramatik in Deutschland, fand vom 26. April bis 5. Mai 2024 am Heidelberger Theater statt. In diesem Jahr stand Georgien im Fokus als Gastland. Der Stückemarkt bietet eine bedeutende Plattform für innovative Theaterproduktionen und talentierte Künstler:innen. Neben dem Autor:innenpreis sind auch der Jugendstückepreis und der seit 2011 verliehene Nachspielpreis ausgeschrieben, letzterer soll die nachhaltige Förderung neuer Dramatik vorantreiben.

FischerFritzHeidelbergerStückemarkt
Die Physiker Sujet
SchauspielSchauspielhaus

Die Dialektik der Technik

Von Günther Anders stammt der Satz: „In keinem anderen Sinne, als Napoleon es vor 150 Jahren von Politik, und Marx es vor 100 Jahren von der Wirtschaft behauptet hatte, ist die Technik heute unser Schicksal.“ Was der Autor von Die Antiquiertheit des Menschen besorgt auf den Punkt bringt, ist die konzise Schlussfolgerung einer Debatte, die weit vor die Zeit des Kalten Krieges zurückreicht.

PremierenfieberDiePhysiker
Celebration (Florida) Probe
SchauspielSchauspielhaus

Viel Talent in Celebration (Florida)

In der traditionellen Kooperation des Landestheaters mit dem Schauspielstudio der Anton Bruckner Privatuniversität kommt es dieses Jahr zu einer regelrechten Ballung der Talente:
Es beginnt mit dem Stück, Celebration (Florida) von Felix Krakau, das 2022 im Drama Lab der Wiener Wortstätten entstanden ist. Ein Entwurf des Stücks war anonymisiert aus über 100 Einsendungen zur Förderung ausgewählt worden.

PremierenfieberCelebration(Florida)
König Ottokars Glück und Ende, Christian Taubenheim und Helmuth Häusler
SchauspielSchauspielhaus

Schwache starke Männer

„Starke Männer“ sind aus dem politischen Geschehen der Gegenwart nicht wegzudenken, mögen sie nun Donald Trump, Wladimir Putin, Xi Jinping, Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan, Jair Bolsonaro oder Rodrigo Duterte heißen. Sie sind Vertreter einer sogenannten disruptiven Politik und als solche erstaunlich erfolgreich. Offenbar treten sie im 21. Jahrhundert gehäuft auf, allerdings gab es Disruptoren und „Starke Männer“ auch in früheren Jahrhunderten.

PremierenfieberKönigOttokar