Darum gehen wir dieses Thema heute mal ganz kühl an. Zuerst die Motive, warum Eltern nicht wollen, dass ihre Kinder zum Theater gehen, dann der Fact Check. – Wir haben uns schon verstanden: Es geht nicht um Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinders ins Theater gehen, sondern um solche, die nicht wollen, dass ihre Kinder zum Theater gehen. Aber warum denn nun eigentlich nicht:
- Weil sie es schwer haben werden.
- Weil die Kinder ja nur sagen, dass sie zum Theater wollen, in Wahrheit wollen sie homosexuell und drogensüchtig sein.
- Weil die Kinder denken, dass sie am Theater Stars werden, das klappt dann aber nicht, stattdessen enden sie in prekären Verhältnissen. Wenn sie die nicht bereits am Theater hatten.
- Weil sie am Theater keine eigene Familie haben können. Und wenn doch, vernachlässigen sie sie.
- Weil sie von zu Hause weggehen und nicht in der Nähe sind, wenn die Eltern alt werden.
Zu 1: Na ja, schwer kann man es überall haben. Gemeint sind hier wohl zwei Komplexe: einerseits das Ringen zwischen Ehrgeiz, Anspruch und Verletzbarkeit mit Misserfolg, Enttäuschung, Wirklichkeit, andererseits die mäßigen Aussichten auf stabile Lohn- und Arbeitsverhältnisse. Und dann auch noch beides in Kombination: Misserfolg und kein Geld sind schwerer zu ertragen als berufliche Enttäuschung bei abgesicherter Position. Fact Check: Die doppelte Prekariatsaussicht, finanziell wie psychosozial, sollte sensiblen Menschen vor einer Berufswahl „zum Theater“ tatsächlich zu denken geben. Es ist ein Umfeld, das ein größeres Maß Resilienz erfordert.
Zu 2: Der Theaterberuf gilt als außerbürgerlich und wirklich wählen manche jungen Menschen ihn, um aus ihrer bürgerlichen Umwelt auszubrechen. Für Angehörige der Mittelschicht ist er häufig auch mit einem gesellschaftlichen Stigma behaftet, das ihn in die Nähe anderer stigmatisierter Gruppen rückt. Manchmal werden diese in der Wahrnehmung auch mit den Theaterleuten vermischt oder verwechselt. Interessanterweise wird dieses Empfinden eines Stigmas vielen Menschen erst bewusst, wenn nahe Angehörige zum Theater wollen. Aus der Distanz (vor allem bei Stars) kann das Stigma in sein Gegenteil, eine Art „Heiligkeit“ umschlagen. Das lateinische Wort „sacer“ heißt bekanntlich beides: heilig und geweiht, aber auch: verflucht, verwünscht, abscheulich. Fact Check: Weder Homosexualität noch Drogensucht kommen am Theater öfter vor als im bürgerlichen Leben. Insbesondere in früheren Jahrhunderten hatten Theaterleute aber manchmal weniger Scheu, ihre Neigungen auszuleben als andere Berufsgruppen. Und: Nein, getrunken wird am Theater auch nicht mehr als in einer Versicherungsgesellschaft. Und: Ja, Homosexuelle sind am Theater so willkommen wie alle anderen.
Zu 3: Zielt auf denselben Komplex wie 1, mit Akzent auf der typischen Hoffnung der Berufsanfänger:in ein Star zu werden. Natürlich gibt es am Theater weniger Stars als solche, die keine Stars sind. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Stars ein so viel einfacheres Leben haben als die Nicht-Stars. Stars sind Künstler:innen, die zu ihrem Publikum eine Beziehung aufbauen, die – wenigstens vom Publikum aus – liebesähnlich ist. Aber auch die Liebe eines Publikums kann toxisch sein. Insbesondere lässt sich das an sogenannten Kinderstars beobachten, die zu früh in ihrem Leben die Liebe eines Publikums abbekommen haben. Ihre Chance, zu seelisch nicht stabilen Erwachsenen heranzuwachsen, ist relativ groß. Auch erwachsene Schauspieler:innen, die zu Stars werden, sind der destabilisierenden Wirkung dieser Liebe ausgesetzt. Fact Check: Ja, junge Theaterleute träumen auf die eine oder andere Art vom Ruhm. Das ist schon deshalb weltfremd, weil Theater heute kein Leitmedium mehr ist und, an anderen Medien gemessen, nur geringe Öffentlichkeit produziert. Stars werden Schauspieler:innen heute durch Fernsehen oder Film. Dabei kann das Theater eine Zwischenstation sein, muss es aber nicht. (Gert Voss hat sich ein Leben lang um Filmrollen gerissen und es hat nicht geklappt.) Die Wahrscheinlichkeit, ein Film- und Fernsehstar zu werden ist für Österreicher:innen aufgrund der hohen Film- und Fernsehförderung allerdings hoch. Dabei wird in der österreichischen Filmproduktion Schauspieler:innen aus Österreich stärker der Vorzug gegeben als an österreichischen Theatern.
Zu 4: Zum Bild der antibürgerlichen Theaterwelt gehört natürlich, dass ein Leben als Schauspieler:in sich mit bestimmten Familienwerten nicht in Einklang bringen lässt. Dem entgegen stehen die Bilder klassischer Theaterfamilien, die über Generationen am Theater wirken und das häufig sogar im Familienbetrieb. (Für Interessierte lohnt sich ein Blick auf die Wikipedia-Seite „Liste bekannter Schauspielerfamilien“: Auf die Bundesrepublik Deutschland entfallen in dieser Liste 50 Schauspieldynastien, auf Österreich 32 – was bei einer 9 mal kleineren Einwohnerzahl auch nicht schlecht ist. Die Schweiz kommt – in der Wikipedialiste – auf nur eine bekannte Schauspielerfamilie. Neben den „bekannten Schauspielerfamilien“ existiert in allen drei Ländern eine große Anzahl nicht gezählter Schauspielerfamilien.) Fact Check: Grundsätzlich ist es für Theatermenschen häufig kompliziert, ihr Privatleben mit der hohen Anforderung an Mobilität, die der Beruf stellt, zu koordinieren. Wer in aufeinander folgenden Engagements in verschiedenen Städten arbeitet, bringt den Partner oder seine Kinder nicht immer dazu, ihr/ihm zu folgen. Das Maß berufsbedingter Mobilität hat aber auch gesamtgesellschaftlich zugenommen, am Theater ist es konstant hoch und kann sich über ein ganzes Berufsleben hin fortsetzen. Theaterleute stehen darum häufig vor der Wahl zwischen dem besseren Engagement und einem Engagement, das ihr Privatleben rettet. Wie viele Kreative neigen auch Theatermenschen zu Überarbeitung und Selbstausbeutung. Auch das wirkt sich belastend auf Familien- und Beziehungsleben aus. (Dennoch führt der große Kritiker abendländischer Familienwerte, Ingmar Bergman, in seinem Spätwerk Fanny und Alexander die Ehe und Familie eines Schauspielerpaars als glückliche Alternative zum Familienleben in bürgerlicher Enge vor.)
Zu 5: Gerade in der Bundesrepublik Deutschland hat Familienpolitik lang sichergestellt, dass Care- und Pflegearbeit innerfamiliär bewältigt werden müssen, d.h. in 98% der Fälle von Frauen. Sowohl die Erziehung von Kindern als auch die Pflege der Alten kommt daher in Schwierigkeiten, wenn sie außerhalb eines Familienmodells von „Hauptverdiener Mann und Hausfrau Frau“ stattfinden muss. Was bei der Betreuung Älterer oft damit zusammenhängt, dass eine Tochter oder Schwiegertochter in der Nähe sein muss. Aber auch gesunde Eltern sehen ihre Kinder gern von Zeit zu Zeit. Fact Check: Am Ende liegt es nicht nur am Beruf, ob Kinder für die Eltern da sind. Der Verdacht, dass Kinder zum Theater gehen, um traditionellen Familienmodellen zu entkommen, verdichtet sich jedoch. Die Frage ist, ob sie im Laufe ihres Lebens dabei bleiben. Dem Autor dieser Zeilen sagte einst eine Souffleuse in der Schweiz: „Einmal in der Woche, rufst du deine Mutter an!“ Und so hat er es seitdem gehalten