Die Regisseur:in ist die – wie es so schön heißt – erste Zuschauer:in. Sie hat eine Doppelfunktion: Sie schaut den Schauspieler:innen beim Ausprobieren und Spielen zu, muss also alles sehen und alles wahrnehmen, was ihr die Spieler:innen auf der Probe anbieten, muss es diesen gegenüber auch benennen und diskutieren können. Dazu wiederum braucht sie auch eine Idee, die über die Probenangebote der Schauspieler:innen hinausgeht, nennen wir sie ruhig: Konzept, oder: Vision der Inszenierung. Es ist wie zwei Bilder, zwischen denen die Regisseur:in während ihrer Arbeit steht: Das Bild, das sie real vor sich sieht. Und ein Bild – oder mehrere –, das oder die sie in ihrem Kopf hat. Eine sehr traditionelle Idee von Regie wäre nun, dass die Regisseur:in versucht, das reale Bild, das sie vor sich sieht, dem vorgestellten, das sie schon im Kopf hat, anzugleichen, also das spielerische Angebot der Schauspieler:innen ihrer Vision anzupassen. Heute gibt es nur noch wenige Regisseur:innen, die so vorgehen würden. Die meisten Regisseur:innen versuchen durchlässiger zu sein, Impulse, die sie von den Spieler:innen erhalten, aufzugreifen und mit ihren eigenen, inneren Impulsen und Konzepten zu verbinden. Dazu bringt die Regisseur:in diese eigenen Impulse aber auch wieder in das Spiel der Schauspieler:innen ein, wird dadurch zur Mitspieler:in. Gleichzeitig bleibt sie mit dem Kopf ein Stück außerhalb des Spiels, sieht aber auch das, was sich nicht abbildet, und setzt es ins Verhältnis zu dem, was sie sieht. Das Ganze ist ein komplizierter Vorgang, insbesondere weil es anspruchsvoll ist, zur gleichen Zeit zu analysieren und zu intervenieren. Und das ist hier ja offenbar von den Regisseur:innen gefordert.
Die Aufgabe der Dramaturg:in ähnelt nun jener der Regisseur:in – und dann auch wieder nicht. Auch die Dramaturg:in sollte wahrnehmen, was auf einer Probe vorgeht, auch die Dramaturg:in hat gewisse Vorstellungen von dem gemeinsamen Projekt. Allerdings wird sie auf der Probe nicht dauernd mit den Schauspieler:innen kommunizieren, sie interveniert nicht und hat dadurch größeren Abstand zu den Probenvorgängen. Dieser Abstand ist die große Ressource der Dramaturg:in, insbesondere da es niemand anderen auf den Proben gibt, der ständig Zugang zu den Proben hat und sich in dieser Zeit doch nicht verhalten muss, den Spieler:innen nichts sagen muss, in inhaltlichen Auseinandersetzungen nicht dauernd Partei ergreifen muss. Natürlich könnte die Dramaturg:in all das tun, es gibt kein Gesetz dagegen, aber der große Unterschied zwischen Dramaturgie und Regie, gewissermaßen die Superkraft der Dramaturgie, ist, das eben nicht tun zu müssen. Und wenn die Dramaturg:in sich dann schließlich doch verhält, wird sie dies typischerweise zuerst der Regisseur:in gegenüber tun. Vielleicht auch nur der Regisseur:in gegenüber: schon weil die anderen Produktionsangehörigen (die Schauspieler:innen) einen Schreck bekommen könnten, wenn da jemand, der wochenlang nur Kaffee getrunken und zugeschaut hat, sich plötzlich in ihre Arbeit einmischt. Selbst die Regisseur:in kann leicht einen Schreck bekommen, aber das gehört zu ihrem Aufgabenprofil. Die typische Rollenverteilung zwischen Dramaturgie und Regie ist also, dass die Regisseur:in, insbesondere den Schauspieler:innen gegenüber, Ansprech- und Verhandlungspartner:in ist. Dass sie das die längste Zeit während der Proben ganz allein ist, vergrößert ihre Einflussmöglichkeiten und das Gewicht ihrer Aussage gegenüber den Schauspieler:innen. Die Dramaturg:in ist hingegen in der Produktion in erster Linie die Berater:in der Regie.
Im Ringen um demokratischere Abläufe, flachere Hierarchien öffnen viele Regisseur:innen nun die Diskurse innerhalb der Produktionsteams, indem sie zwischendurch gewissermaßen alle zum Gespräch an einen Tisch bitten, also auch Dramaturg:innen, Schauspieler:innen, Assistent:innen usw. Ob das tatsächlich zu einer Verflachung der Hierarchien führt, kann vorerst nur von Fall zu Fall beschrieben werden. Gerade die stärkere Aufgabenteilung, die einem traditionelleren Verständnis der Produktionsabläufe folgt, gibt den verschiedenen der Regie zuarbeitenden Kräfte auch Entscheidungsspielräume und Eigenverantwortlichkeit, die verringert werden können, wenn alle über alles diskutieren und dabei „am selben Tisch sitzen“, an dem zuletzt die Regisseur:in doch die Oberhand behält.
Nun ist es für Theaterleute, die ja über die Berufsbezeichnungen hinweg doch eng verwandte Gencodes haben, nicht automatisch intuitiv, auf einer Probe rumzusitzen und nichts oder nicht viel zu tun. Und das gilt eben auch für Dramaturg:innen. Auch funktioniert das Rollenspiel zwischen Regie und Dramaturgie nicht so, dass es an den Theatern Instanzen gäbe, die den jungen Dramaturg:innen erklären würden, wie sie sich auf Proben zu benehmen haben. Empirisch lässt sich feststellen, dass viele Dramaturg:innen im Lauf ihrer Berufsausübung ein ähnliches Rollenverständnis wie das oben beschriebene entwickeln. Dabei lässt sich beobachten, dass jüngere Dramaturg:innen von den Regisseur:innen oft anders in den Arbeitsprozess eingebunden werden als mittelalte. (Im Theater gibt es immer zwei Sorten von Menschen: jüngere und mittelalte.)
So sind jüngere Dramaturg:innen oft schon von der Dauer her mehr auf den Proben anwesend als mittelalte. Das könnte mit größerem persönlichem Interesse zusammenhängen, aber auch damit, dass mittelalte Dramaturg:innen mehr Arbeit im Büro haben als jüngere bzw. weniger in der Lage sind, die Büroarbeit zwischen den Proben nachts zu machen. Arbeitsrechtlich ist das Letztere natürlich auch für jüngere Dramaturg:innen keine Option, aber es gibt zwischen Himmel und Erde bekanntlich mehr, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt.
Während sie nun auf den Proben sitzen, werden jüngere Dramaturg:innen auch gern (abweichend von oben beschriebenem Profil) stärker mit „aktiven“ Aufgaben betraut, wie zum Beispiel: an Improvisationen teilnehmen, improvisierte Texte mitschreiben oder andere zusätzliche Texte suchen. Nennen wir es „Live-Textarbeit“. Der oben beschriebenen Logik folgend verlieren die jüngeren Dramaturg:innen dadurch einen Teil des Abstandes, den sie gewinnen würden, wenn sie genau solche Sachen nicht täten. Zugleich geraten sie mehr in den Bereich der Arbeit, den die Regisseur:in inszenierend kontrolliert, werden ebenfalls eher Mitspieler:innen als Beobachter:innen. Womöglich sind das Maßnahmen, die Regisseur:innen ergreifen, um die Dramaturg:innen langsam an ihren Platz in der Aufgabenteilung des Probenbetriebs hinzuführen. Und aus der Erinnerung muss ich sagen: Es braucht tatsächlich Eingewöhnung, um die Daseinsform des „Auf-Den-Proben-Sitzens“ zu verstehen und erfolgreich auszuüben.
Man sitzt eben herum und sollte nicht zu wichtig tun. Man lernt, die Vorgänge und Riten zu genießen, aus denen sich Theaterproben so zusammensetzen. Das Spiel der Schauspieler:innen, das sich noch nicht eingespielt hat. Das gemeinsame Eindringen in die Texte. Gruppendynamiken. Hoffnung und Verzweiflung. Fröhlichkeit. Die Jugendlichkeit der jüngeren Künstler:innen und die Erfahrung, häufig Virtuosität der mittelalten. Die Kaffeepausen, den small talk, dass wir für immer spielen dürfen.
Und dann muss auch noch darauf hingewiesen werden, dass die Probenbühnen der allermeisten Theater in anderen Stadtteilen als die Theater und die Büros der Dramaturg:innen stehen, mit Reisezeiten vom einen Ort zum anderen zwischen 30 und 60 Minuten. Und hat die Dramaturg:in das Probenlokal endlich erreicht, muss sie dort in Vorzimmern und Kaffeeküchen warten, ehe sie die Probebühne auch betreten kann. Zum Dramaturg:innenberuf gehört also ein manchmal an Joseph Roth gemahnendes ständiges Unterwegs-Sein. Aber das ist ein anderes Thema und muss in einer eigenen Blog-Folge behandelt werden.