Gleichzeitig besprachen wir, warum im Idealfall die Theaterleitung nicht in den Prozess eingreifen sollte. Um noch einmal zu erinnern, was „Eingreifen“ in unserem Zusammenhang eigentlich heißt: Ein bisschen theoretisch haben wir das bereits formuliert, wir nannten es die Außerkraftsetzung der Regel, dass die Regisseur:in auf der Probe die letzte Entscheidung trifft. Praktisch heißt es meistens – wenn es so weit kommt –, dass sich die Theaterleiterin oder der Theaterleiter vor die Schauspieler:innen und das Regieteam hinstellt und ihre/seine Kritik an der Inszenierung dem gesamten Team selbst vorträgt. Je nachdem ergibt sich daraus eine Diskussion, die mit Beschlüssen endet, welche die Theaterleiter:in ohne vorherige Absprache mit der Regisseur:in gutheißt.
Welche Probleme rechtfertigen derartiges Eingreifen (und welche nicht)? Fangen wir mit den eindeutigen Fällen an: Alles, was mit den Gesetzen des Bürgerlichen und des Strafrechts kollidiert, ohne dass die Produktionsteams (die ja meist keine Juristen sind) den Bedarf zu einer Änderung bemerken oder zugestehen, kann das Eingreifen der Leitung erforderlich machen. Also Dinge wie Verletzung von Persönlichkeitsrechten, Verletzung von Urheberrechten, Verbreitung jugendgefährdender Schriften, Volksverhetzung etc. Nun hört man immer wieder einmal Vorwürfe gegen Aufführungen, die sich solcher Übertretungen schuldig gemacht haben. Was leicht nachvollziehbar daran liegt, dass Theaterleitungen ja keine Gerichte sind und das Vorhandensein entsprechender Tatbestände in denselben Fällen bestreiten mögen. Dann müsste der jeweilige Fall von einem wirklichen Gericht geklärt werden. Wenn hingegen der Theaterleiter selbst der Überzeugung ist, dass in einer Aufführung, die er oder sie zu verantworten hat, Gesetze übertreten werden, wäre er oder sie verpflichtet, dies auch gegen die Meinung der beteiligten Künstler:innen zu verhindern.
Sie haben es schon bemerkt: Selbst in diesem Bereich – dem des juristisch begründeten Eingreifens einer Theaterleitung in die Probenarbeit – gibt es eine Unschärfe, die im Gewissen der Theaterleitung liegt: Nur sie kann schließlich wissen, was sie wirklich glaubt. Glaubt sie, ein Gesetz wird übertreten oder glaubt sie eben das nicht (im Zweifelsfalle nach Beratung mit einem Juristen). Glaubt sie es nicht und greift demnach nicht ein, aber eine Zuschauer:in wäre nach der Aufführung der Inszenierung anderer Meinung, kann die Letztentscheidung über das Geschehen auf der Bühne wiederum zum Richter weiterwandern. In den meisten Fällen kommt es nicht so weit, weil die Theater (im Gegensatz zu allem, was Sie je gehört haben) den Skandal scheuen und spätestens die Klageandrohung in der Regel dazu führt, dass Theaterleiter:innen Änderungen an beanstandeten Aufführungen vornehmen.
Kommen wir nun aber zurück zu dem Bereich der Kunst, der sich außerhalb von Gesetzesübertretungen abspielt, der gedeckt ist von der Meinungsfreiheit, und der eigentlich nur von Geschmacksfragen bestimmt wird. Da die Theaterleiter:innen selbst Stück und Beteiligte bestimmen, sind es selten weltanschauliche Differenzen, die zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen hinter den Kulissen führen. Es bleibt also beim Geschmack. Und über Geschmack lässt sich schlecht streiten.
Nun würden einige Theaterleiter:innen vielleicht sagen, dass es neben weltanschaulichen und geschmacklichen Kriterien noch handwerklich qualitative gibt. Ich neige dazu, handwerkliche Aspekte (wie: Verständlichkeit der Erzählung, Umgang mit der Sprache, Licht, Akustik) ebenfalls als Geschmacksfragen zu sehen. Beispiel: Peter Zadek. Der machte als Jung-Regisseur Furore, weil er zuließ, dass Protagonist:innen seiner Inszenierungen nuschelten (undeutlich artikulierten). Für die Traditionalisten ein handwerklicher Fehler, für Zadek ein ästhetisches Statement.
Theaterleiter:innen sind bei der Entscheidung einzugreifen oder nicht also in gewisser Hinsicht einsam. Der kürzlich verstorbene Jürgen Flimm sagte einmal: „Kinder, wenn wir wirklich wüssten, was Erfolg hat, würden wir doch nur noch das machen.“ Eingreifen hat meist mit der Erwartung von Erfolg bzw. Misserfolg zu tun. Und mit der Unmöglichkeit, vorauszusagen, welches von beiden eintreten wird.
Greifen wir zu einer Hilfskonstruktion: Dem idealen Skandal. Wie Sie überall zu hören bekommen haben, liebt das Theater den Skandal. Und vor einigen Jahrzehnten gab es tatsächlich noch so etwas wie den idealen Skandal, der maximales Getöse gemacht und anschließend dafür gesorgt hätte, dass das Theater jeden Abend bummvoll ausverkauft war. Ein Theaterleiter, der in diesem Falle vorher eingegriffen hätte, um den Skandal zu verhindern, wäre ein schöner Esel gewesen.
Wenn es aber den idealen Skandal gibt, dann gibt es auch das Gegenteil: Den Skandal, der schadet und nix nutzt. Diesen Fall hätten wir bei einer Aufführung, die das Publikum nachhaltig abschreckt, ohne irgendein Geräusch dabei oder sonstwie unbezahlte Werbung gemacht zu haben. Eine Aufführung, die still und leise das Theater leerspielt, teuer war, für viele Vorstellungen disponiert und eine riesige Besetzung hat. Sollte eine Theaterleiterin nun in der Endprobe einer solchen Inszenierung sitzen und ihr Rheuma flüstert ihr ins Ohr, dass sie da gerade einen sicheren Totalausfall heranrauschen sieht, dann wäre sie keine treue Geschäftsführerin, wenn sie nicht die Schritte einleiten würde, die am Ende allenfalls zu einem Eingreifen führen können. Welche Schritte sind das: Die Theaterleiterin spricht mit dem Dramaturgen, der zuckt mit den Schultern, sie spricht mit der Regisseurin, diese ist der Meinung, dass es nichts zu ändern gibt. Die Theaterleiterin muss Schaden von ihrem Betrieb abwenden und zieht die die Reißleine.
Sie haben es bemerkt: Da sind viele „wenns“ und „danns“ enthalten. Denn: Was immer einer Direktorin Rheuma für todsicher halten mag, in Wahrheit gibt es keine Sicherheit. Und was auf einer Probe schrecklich aussieht, kann sich am Premierenabend immer noch als größter Hit seit der Dreigroschenoper herausstellen.
Die weise Direktorin weiß das auch. Und muss daher abwägen, wie hoch die Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen sind. Stets wird sie nur zögerlich und minimal-invasiv eingreifen, wenn überhaupt. Und dafür gibt es auch noch einen zweiten Grund: Eingreifen kann zur Sucht werden. Es gab in der Vergangenheit Theater, die dafür berühmt waren, dass ihre Direktoren regelmäßig in den Endproben zum „Retten“ ausrückten. Sogenannte „Retter-Intendanten“. Man ahnt schon, wie beliebt die bei den Regisseur:innen waren. (Zum Glück gibt es die heute selbstverständlich nicht mehr.) In den Theatern selbst führte fortgesetzte Retterei dazu, dass die Schauspieler:innen zu Beginn der Proben bereits wussten, am Ende kommt der Chef und reißt das Ruder rum. Weshalb sie bis zu diesem Zeitpunkt oft mit halber Kraft probten, weil das, was in den ersten fünf oder sechs Proben-Wochen entstand, später unter Umständen verworfen wurde.
Am Rande haben wir vermerkt, dass Direktor:innen und Dramaturg:innen genügend Instrumente haben (insbesondere aber das beratende Gespräch), um den Erfolg einer Inszenierung mit herbeizuführen. Rettungen sind also meist die Folge von Ungeduld und schwachen Nerven. Peter Brook hätte gesagt: Kommen Sie lieber gar nicht erst in Not.