Und da es jetzt ein bisschen komplizierter werden könnte, wenn wir versuchen zu erklären, warum es nicht so ist, und vor allem: warum es gut ist, dass es nicht so ist, wollen wir uns zuerst die Spielregeln anschauen und wie es seit Jahrtausenden am deutschen Stadttheater – im Idealfall – funktioniert:
Dramaturg:innen sitzen auf den Proben und schauen den Schauspieler:innen beim Spielen und den Regisseur:innen beim Inszenieren zu.
Die Regisseur:in macht den Probenplan, bestimmt die Inhalte der Probe und moderiert die Zusammenarbeit aller Beteiligten, insbesondere die der Schauspieler:innen. Hat die Regisseur:in eine deutliche Vision, wie das Projekt am Ende auf der Bühne aussehen soll, kann sie versuchen, diese Vision mit den Schauspieler:innen umzusetzen. Ist ihr mehr an flacher Hierarchie und einer gemeinsamen Entwicklung des Projekts gelegen, kann sie den Findungsprozess öffnen und die Beteiligten auch in solche Fragen einbinden, die nicht nur ihren persönlichen Beitrag zum gemeinsamen Kunstwerk betreffen. – Die Probenarbeit innerhalb einer traditionelleren, steileren Hierarchie funktioniert hingegen in der Regel so, dass jede:r Schauspieler:in sich nur zu ihrer eigenen Rolle verhält und sich nicht (niemals!) in die Rollenarbeit der Kolleg:innen einmischt. Hat ein Schauspieler Vorschläge oder Bedürfnisse an die Rollengestaltung eines Kollegen, kann er das mit der Regisseur:in besprechen, die den Vorschlag aufgreift oder nicht. Man ahnt bereits, wozu diese Entscheidungshierarchie eigentlich gut ist: Die Regisseur:in moderiert einen Prozess, in dem zwei oder mehr Schauspieler:innen zu einem gemeinsamen Spiel finden müssen. Um zu verhindern, dass die Schauspieler:innen sich nicht einigen, hat die Regisseur:in im Zweifelsfall das letzte Wort. Je stärker alle Vorschläge von der Regie ausgehen (steile Hierarchie) desto einfacher ist dieser Vorgang, je mehr Vorschläge von allen Beteiligten zugelassen werden (flache Hierarchie) desto anspruchsvoller ist deren Moderation für die Regisseur:in. – Die Dramaturg:in ist in diesem Spiel die einzige Person, die das Privileg genießt, auf den Proben rumzusitzen, nur zu schauen und zu hören, ohne selbst agieren zu müssen (kann sie, muss sie aber nicht). Danach teilt die Dramaturg:in ihre Eindrücke mit der Regisseur:in, die zwar auch schaut und hört, aber stets auch reagieren, die Bälle zurückspielen muss. Dadurch baut die Regisseur:in eine starke Beziehung zu den Schauspieler:innen auf, hat aber auch weniger Abstand, sie spielt gewissermaßen mit. Außerdem hat sie unter Umständen die oben angesprochene Regie-Vision im Kopf, das hat die Dramaturg:in nicht, dadurch kann sie die Probenarbeit mehr „von außen“ sehen.
Hat die Dramaturg:in das letzte Wort in dem Prozess? – Nein, wie oben schon gesagt: das hat die Regisseur:in und wenn es das letzte sein soll, kann das ja nur eine haben.
Ist die Dramaturg:in – heimlich – trotzdem so etwas wie die Herr:in des Ausnahmezustandes, in dem die gerade genannte Regel nicht mehr gilt? (Und in dem die Dramturg:in folglich „eingreifen“, also die Steuerung durch die Regisseur:in umgehen könnte?) Diese Idee scheint ein verbreiteter Irrtum zu sein. Es ist nicht so. Doch vollenden wir zunächst das Bild des idealen Falls, wie Proben funktionieren sollten: Indem die Probenarbeit sich dem Ende nähert, Regie und Dramaturgie sich immer wieder ausgetauscht und ihre Wahrnehmung verglichen haben, besucht auch die Theaterleitung eine Probe und schaut sich die Arbeit ebenfalls an. Dann stellt die Theaterleitung fest, dass sie bei der Auswahl aller Künstler:innen, darunter auch das Regie-Team – gute Arbeit gemacht hat und dass eine schöne Aufführung entstanden ist. Dann bedarf es keines weiteren Eingreifens. Wenn alle alles richtig machen, läuft es so.
Was aber ist das Richtige zu tun, wenn auf den Proben etwas schief läuft? Wenn Regie und Dramaturgie in der Probenarbeit nicht zufrieden sind. Im Theater-Alltag ist das der Normalfall, gerade dafür haben Regisseur:in und Dramaturg:in einander ja und gemeinsam (auch unter Zuhilfenahme weiterer Berater:innen) lösen sie die Schwierigkeiten. Insofern wäre das noch keine Abweichung vom Idealfall.
Was aber ist der Ausnahmezustand? Der Ausnahmezustand ist, wenn die Theaterleiter:in in den Probenprozess eingreift. Das heißt: wenn sie mehr als nur beratende Gespräche mit der Regie führt und ihre Einwände direkt mit den Schauspieler:innen (und womöglich anderen Abteilungen) bespricht. Damit ist die Letztentscheidung durch die Regisseur:in ausgesetzt. Für das Verhältnis zwischen den Schauspieler:innen und der Regisseur:in (und damit auch: für das Verhältnis der Schauspieler:innen zu der bereits entstandenen Arbeit) stellt das eine starke Belastung dar. Darum muss dieser Ausnahmezustand auch der Ausnahmefall sein. Dem Eingreifen der Theaterleitung geht logischerweise eine Kommunikation mit der Dramaturgie voraus. Diese muss nicht notwendig unter Ausschluss der Regie stattfinden. Dennoch zeigt sich hier die doppelte Funktion der Dramaturgie. Sollte diese in der Probenarbeit Probleme beobachten, die dort nicht gelöst werden können (im nächsten Teil unseres Blogs sollten wir auflisten, was solche Probleme sein können), wird sie die Theaterleitung davon informieren, so dass diese erstens vorgewarnt ist, und zweitens überlegen kann, früher als beabsichtigt die Proben zu besuchen – um Zeit zu gewinnen. Die Dramaturgie kommuniziert also nicht nur mit der Regie, sondern auch mit der Theaterleitung. Sollte eine solche, oben beschriebene Ausnahmesituation drohen, wird die Theaterleitung aber nicht allein die Stimme der Dramaturgie hören, sondern – noch bevor sie einen vorgezogenen Probenbesuch in Erwägung zieht – auch andere Produktionsbeteiligte, Schauspieler:innen und die Regie selbst. Wie schon angedeutet, stellt ein direktes Eingreifen und das Umgehen der Regie für alle Beteiligten eine große Störung ihrer Arbeit dar. Und die weise Theaterleiter:in wird abwägen, ob diese Störung einen Nutzen bringen kann, der den unvermeidlichen Schaden überwiegt.
Alte Intendant:innen sprechen von den Selbstheilungskräften einer Produktion: Selbst wenn alle Beteiligten wissen, dass es Probleme gibt, können sie – oft auf den letzten Metern zur Premiere – Kräfte freisetzen, die eine Aufführung doch noch zum Erfolg führen. Das passiert aber nach aller Erfahrung eher dann, wenn der Patient sich selbst überlassen blieb und nur mit konservativer Therapie (Nachdenken, Beraten, Beten) behandelt wurde. Wird die Regie abgesetzt, und das ist ja, was die Vokabel „Eingreifen“ in dem Zusammenhang allein bedeuten kann, entwickeln diese Selbstheilungskräfte sich in der Regel nicht.
Nach der Lehre des Daoismus regiert der weise Herrscher dadurch, dass er nicht eingreift. Und die Funktionäre tun ihre Arbeit, indem sie sich auf ihre Aufgabe beschränken. Das Rad dreht sich nur, wenn die Nabe in der Mitte stille steht und die Speichen fest an ihren Plätze stehen. Nihao!