30 | Zuviel Toxik?

WasmachenDramaturg:innen?

Vor einigen Jahren arbeitete ich an einem anderen Theater, als ich den Brief einer Zuschauerin zur Beantwortung bekam. (Das ist übrigens eine besonders schöne Aufgabe der Dramaturg:innen – Zuschriften beantworten. Dabei ist, was in den Zuschriften zu lesen ist, manchmal durchaus interessant. Manchmal allerdings auch nicht.) Der Brief, der mir damals auf den Schreibtisch flatterte, war allerdings sehr interessant, auch wenn mir das nicht unmittelbar klar war.

Und zwar beschrieb die Zuschauerin, dass sie nach einer Vorstellung in dem Theater um das Haus gegangen war, um sich die Aufführungsfotos in den Schaukästen anzuschauen. Dabei war ihr mit Entsetzen aufgefallen, dass auf einem großen Teil der Fotos in den Kästen (ungefähr auf allen) Motive abgebildet waren, die sich in einem entscheidenden Punkt ähnelten: Auf allen Bildern war ein Mann oder waren mehrere Männer zu sehen, die eine Frau oder mehrere Frauen gewalttätig malträtierten. Die Irritation der Zuschauerin führte sie zu zwei Fragen: 1.) Handelten alle Stücke im Programm dieses Theaters von Gewalt gegen Frauen? Und 2.) Warum war Gewalt gegen Frauen auf beinah allen ausgestellten Fotos dargestellt, wie man es in den schlimmsten Boulevard-Medien nicht finden würde?

Bei nahezu allen Arbeiten im Theaterbetrieb gibt es standardisierte Findungs- und Entscheidungsabläufe, in denen die zu bestimmenden Traktanden von einer/einem (manchmal mehreren) Entscheider:innen überblickt und dann entschieden werden. Und was dem Entscheider in diesem Fall offenbar nicht aufgefallen war, war, dass er bei den ihm zur Auswahl vorgelegten Fotos für die Schaukästen immer auf mehr oder weniger dasselbe Motiv getippt und befunden hatte: „Das ist ein starkes Bild.“

In meiner Antwort an die Autorin des Briefs schrieb ich, dass wir uns vielmals bedankten für den guten Hinweis, dass uns diese Sache gar nicht aufgefallen war (keine sehr gute Erklärung), dass es sich um einen Zufall handele (naja), der kein repräsentatives Bild der wechselnden Auswahl von Schaukastenbildern des Theaters gebe (in Wahrheit eine Behauptung) und: dass das Theater ja ein Spiegel der Verhältnisse sein müsse und wir würden hier doch auch gesellschaftliche Zustände, welche wir anprangern, problematisieren. Das müsse doch auch in ihrem Interesse liegen. Diese letzte Wendung, attestiere ich mir jetzt mal selbst, war zwar geschickt, aber den wirklichen Verhältnissen und Proportionen dieser Angelegenheit nicht angemessen.
Darauf reagierte auch die Briefeschreiberin, indem sie antwortete, dass Gewalt gegen Frauen zwar ein leidiger Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit sei, dass – um sie zu überwinden – es aber nicht ausreiche, einfach immer nur Ab- und Fantasiebilder dieser Gewalt zu produzieren. Ich nahm den Hinweis an, auch hatte ich bereits in meiner ersten Antwort versprochen, in Zukunft mehr auf das Thema zu achten.

Ich tue jetzt etwas für diesen Blog Ungewöhnliches: Ich lasse diese Geschichte einfach mal so stehen.

Viele Jahre später stehe ich mit der Schreiberin der erwähnten Briefe in freundschaftlichem Austausch. Das damalige Thema, das der Abbildung von Unterdrückung und Gewalt, und die Frage, warum solche Abbildung nicht ausreicht, um diese Verhältnisse zu überwinden, hat uns weiterhin beschäftigt. Die Dynamik unseres Dialoges war meist, dass meine Gesprächspartnerin mir ein Stück voraus war, insbesondere was die Überwindung klassischer Dramaturgien angeht. So in der Forderung, dass sie sich wünschen würde, dass die Frauen am Ende eines Stücks nicht so oft tot sein sollten.
Vor kurzem fragte sie mich, ob ich mir eine Dramaturgie vorstellen könne (oder schon gehört hätte von einer Dramaturgie), die weltanschauliche Differenzen einer Gesellschaft nicht in Gegnerschaft bzw. Feindschaft zwischen den Figuren ummünzt. Mir war nicht sofort klar, was damit gemeint war, darum fragte ich zurück, ob das bedeuten solle, dass weltanschaulich motivierte Konflikte auf der Bühne nicht in persönliche Konfrontationen übersetzt werden sollten. Wenn ich es recht verstand, steckte dahinter die Idee, im Theater eher Ideen vorzudenken, die nicht immer in unausweichliche Katastrophen münden, sondern auch Auswege aus verfahrenen Situationen weisen.

Klammer auf: Klassische Dramaturgien enden oft in Tod, Verdammnis oder Scheitern. Friedrich Dürrenmatt brachte es 1962 auf die Formel: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Das ist sein dramaturgisches Axiom, das er selbst als gesellschaftskritischen Ansatz empfand. Man könnte aber auch der Meinung sein, dass dieser Ansatz gerade in seiner Axiomatik eine konstruktive Kritik von Gesellschaft eher abschwächt und entmutigt. Weil er ein Denkmuster trainiert, das – übertragen auf die Wirklichkeit – eher das Scheitern an Problemen als deren erfolgreiche Bewältigung begünstigt. Vielleicht kennen Sie ja auch die umgekehrte Formel: „Am Ende ist alles gut. Und ist es nicht gut, ist es noch nicht das Ende.“ Im Alltag haben wir oft die Wahl, welche dieser beiden dramaturgischen Matrizen für eine Situation in unserem Leben Geltung haben soll. Auf der Bühne aber hatten die Dramatiker diese Wahl offenbar einige Jahrhunderte lang nicht. Sie hatten nur die Wahl zwischen nicht so schwerwiegenden Schwierigkeiten, die in der Komödie verhandelt und durch Eheschließung gelöst wurden, oder schwerwiegenden Schwierigkeiten, die in der Tragödie verhandelt werden mussten und nur durch den Tod zu lösen waren. Beim massenhaften Lesen von Theaterstücken kommen junge Dramaturg:innen daher häufig an den Punkt, wo sie immer im vierten Akt von tödlicher Langeweile gepackt werden, wenn die Dramatiker:innen zu der eintausendsten Variante der dramaturgischen Todesspirale ansetzen. Denn natürlich war Dürrenmatt nicht der Erfinder des von ihm so elegant verfassten Katastrophen-Axioms. Klammer zu.

Auf meine Gegenfrage („Meinst du, dass Konflikte auf der Bühne auch ohne hochgradige Personalisierung oder Polarisation dramatisch genug wären?“), antwortete meine Freundin also: Nein, heute vielleicht noch nicht.

Nachdem diese Debatte eine Weile bei mir nachgewirkt hatte, fielen mir allerdings mehr und mehr Formate ein (insbesondere in dem weiten Feld des Dokumentartheaters, aber auch literarische Texte junger Dramatiker:innen), die durchaus nicht der klassischen Katastrophendramaturgie auf den Leim gehen. Allerdings muss ich anmerken, dass diese Erzählungen eher in den Randgebieten unseres Theatersystems blühen und heute noch nicht zu den großen Quotenkrachern zählen. (Damit es hier kein Missverständnis gibt: Ich würde in diesem Zusammenhang so klassisch psychologische Dramatiker wie Tschechow oder Schnitzler immer noch auf die Seite von Tod, Verdammnis, Scheitern zählen. Selbst in den Stücken, in denen ihre Hauptfiguren sich nicht auf offener Bühne umbringen. Tschechow nannte das: „Den fünften Akt weglassen.“ Aber dieser fünfte Akt, auch wenn er ihn der Fantasie der Zuschauer:in überließ, war trotzdem von ihm gemeint.)

Und dann hatten wir hier vor einigen Wochen mit Dramatikern wie Seneca zu tun und stellten fest, dass deren ostentative Grausamkeit uns heute auf der Bühne nicht mehr so recht vorstellbar erscheint. Von dieser Stufe hat sich das Theater wegbewegt. (Zugegeben gibt es andere Medien, der Populärkultur, die Fantasien von Gewalt und Grausamkeit auf mindestens vergleichbarem Niveau produzieren.) Aber grundsätzlich sind wir in der Lage im Theater nicht nur Ausweglosigkeit und Katastrophe als dramatisch zu empfinden. Denkbar, dass kommende Generationen von Dramatiker:innen uns nicht nur in der Komödie mehr konstruktive und zivile, Hoffnung machende Erzählungen anbieten werden.

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