Es kann ein Stück entstehen, das sich von Dramaturgie und Handlungsverlauf der Vorlage weit entfernt und nur noch an den Grundmotiven des Vorbildstückes abarbeitet (Simon Stones Medea). Und es gibt Überschreibungen, bei denen das zitierte Stück zwar noch im Titel angesprochen wird, denen der Theatergänger allerdings die Überschreibung ohne Hilfe (oder Hinweis durch den Stücktitel) nicht angemerkt hätte, so assoziativ weitläufig verbunden mit oder weit entfernt sind sie von der Vorlage (Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart). Und das Lamento darüber lässt nicht lange auf sich warten: „Warum schreiben denn die Dramatiker:innen von heute dauernd diese Überschreibungen? Das kann ja nur daran liegen, dass ihnen nichts eigenes mehr einfällt. Oder daran, dass die Regisseur:innen die Originalstücke nicht mehr verstehen und eine Übersetzung brauchen.“ Immerhin, wäre der letzte Vorwurf korrekt, enthielte er doch eine wichtige Feststellung zu unseren Klassikern: es scheint heute möglich, diese Stücke nicht mehr zu verstehen, weil man ihre Sprache nicht versteht. Hätten die Theatermacher und das Publikum die Sprache dieser Klassiker zu ihrer Entstehungszeit schon nicht verstanden, wären diese Stücke niemals Klassiker geworden. Einmal sprachen auch die Klassiker die Sprache ihres Publikums (höchstens leicht verschönt durch Reim und Versmaß). Und heute tun sie das nicht mehr. Weil die Sprache sich verändert hat. Und die Gesellschaft. Und die Welt.
Und weil, wie wir in den letzten beiden Wochen gesehen haben, manche Klassiker noch immer tolle Stücke sind, uns heute aber ethisch stark bedenklich vorkommen. Und das – dass nämlich selbst die Klassiker im Meer der Zeit irgendwann davonschwimmen – ist ein ganz normaler Vorgang: Ich lade Sie hiermit ein, sich mal ein paar Klassiker der klassischen Antike vorzuknöpfen, sagen wir für den Anfang Aristides, Petron, Seneca: die konnten über Dinge lachen (körperliche Grausamkeiten, missbräuchlichen Sex, mit Tieren, oder Schlimmerem) bei denen es uns Heutigen normalerweise einfach nur den Magen umdrehen würde. Der Grund, dass wir die heute nicht mehr lesen – außer wir sind Philologen – ist nicht allein, dass die Bibliothek von Alexandria abgebrannt ist, sondern auch: weil sie nicht mehr zu ertragen sind.
Nun altern die verschiedenen Klassiker unterschiedlich schnell, manche haben uns genauso viel zu sagen wie dem Publikum vor 250 Jahren (Lessing), nur dass wir die Sprache nicht mehr ganz verstehen, andere sind schlicht nicht mehr witzig (Der Widerspenstigen Zähmung), selbst in sehr moderner Übersetzung.
Da Theaterleute aber Meister in der Kunst sind, aus Lumpen Haute Couture zu machen, tun sie es mit den alten Klassikern genauso: sie recyceln sie. (Haben sie schon immer gemacht, siehe auch Molière.)
Und im 20. Jahrhundert reichte es, gewisse problematische Aspekte mit den Mitteln des Regietheaters zu bearbeiten. Schiller, der nun leider manchmal einen für die Zeit nicht ungewöhnlichen Antijudaismus, Sexismus und Nationalismus heraushängen lässt, wurde so lang auf den Kopf gestellt, bis die Bösewichte keine Bösewichte und die Helden keine Helden mehr waren. (Was sagte das Theaterpublikum? „Was habt ihr mit dem schönen Schiller gemacht! Gebt uns unsere Stücke zurück, so wie sie nie waren!“)
Aber irgendwann reichte das nicht mehr aus. Unter anderem weil die Regie-Methode der Stück-Entstellung bis zur Kenntlichkeit ans Licht brachte, dass die Probleme mit den Klassikern zuweilen größer waren als zuerst angenommen (siehe auch: Kleist, Die Hermannschlacht und Prinz Friedrich von Homburg, Zitat: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“).
Und weil aus dem Theaterdampf des Regietheaters mehr und mehr hervortrat, was wir letzte Woche schon bemerkt haben: Dass sich die geschriebenen Texte am Ende auch gegen Regiegags durchsetzen. Wer schreibt, der bleibt. Oder auch: die Kraft der Narrative. Was geschrieben steht, wirkt weiter. (Das ist im Grunde ja auch die Idee.) Und wenn wir die fundamentalen Werte eines Textes (siehe Shylock und Othello) irgendwann nicht mehr tragen können, reichen eben kleine Korrekturen nicht mehr aus.
Eine Zwischenstufe zwischen dem Regietheater und der Überschreibung war das „Kommentartheater“, Frank Castorf war dessen Genie. Das Kommentartheater war insofern ein hochliterarisches Unterfangen, als es den Kommentar zum Urtext über diesen Text erhob, dabei aber dennoch nur verständlich war für den, der den Urtext gut genug kannte. (So stritten sich in Castorfs Wilhelm Tell die Schweizer um ein Bier, das unter einem Hut stand. Dazu musste man 1.: wissen, dass das spezielle Bierglas in der Schweiz „Stange“ genannt wird, und 2.: dass in Wilhelm Tell ein „Hut auf einer Stange“ eine Rolle spielt.) Die modernen Überschreiber tun heute häufig etwas Ähnliches, nur dass sie im Gegensatz zu Castorf nicht mehr voraussetzen können, dass das Publikum den klassischen Primärtext wörtlich kennt.
Vor allem aber greifen sie viel tiefer ein in die Architektur der Mythen und der Klassiker, als reiner Kommentar oder regietheaterliche Schönheitskorrektur es konnten. Sie versuchen, diese Träume unseres kollektiven Bewusstseins zu verstehen, so gut es ihnen heute möglich ist. Dabei sind sie nicht klüger als die Klassiker. Und vielleicht auch nicht sehr oft genauso gut. Theater ist stets ein Versuchen. Und die Klassiker sind Klassiker, weil ihre Versuche Gültigkeit für sehr lange Zeit erlangten. Dem Strom der Zeit enthoben waren sie so wenig wie ihre modernen Nachdichter. Aber wer ist das schon?