Die Theaterpraktiker*innen erklären, dass der Stücktext nicht die fertige Aufführung enthält und deshalb, auf dem Weg zur Bühne, in vielfacher Hinsicht gedeutet werden muss. Viele Zuschauer*innen (und Theaterverlage) sind der Meinung, dass die Stückautor*innen sich wahrscheinlich doch die eine oder andere Vorstellung von den Aufführungen, die ihrem Werk folgen sollen, gemacht haben und dass die Regisseur*innen, wenn sie nur wollten, diese aus den Stücktexten herauslesen könnten. Und in der Theorie besteht hier noch kein Widerspruch. Praktisch setzt an diesem Punkt die Verhandlung darüber an, wessen Wille bei der Umsetzung des Stücktextes in eine Theateraufführung welche Rolle spielen soll: Hat die Regisseur*in das letzte Wort und wird damit zur quasi gleichberechtigten Koautor*in der Dramatiker*in? Oder erhält die Regisseur*in ihre Legitimation und Deutungsmacht in letzter Instanz aus dem Willen der Autor*in, dessen Rekonstruktion darum ihre vorrangige Pflicht ist?
Die Fragestellung enthält einige Vereinfachungen. So sprachen wir bereits von der multiplen Urheberschaft, die jeder Theateraufführung zugrundeliegt. Die Regisseur*in ist nicht die einzige Koautor*in der Dramatiker*in, sie wird jedoch (in einer vom männlichen Geniebegriff geprägten Welt) gern stellvertretend für die Urheberschaft aller anderen an der Aufführung Beteiligten genannt. Eine andere Vereinfachung bezieht sich auf die Rekonstruktion des „Autor*innenwillens“. Dabei fällt auf, dass Regisseur*innen, die den größten Aufwand treiben, die Ideen von verstorbenen Dramatiker*innen zu rekonstruieren, oft denselben Aufwand treiben, die Dramatiker*innen, sollten sie noch nicht verstorben sein, von Proben ihrer eigenen Stücke fernzuhalten. Kurz gesagt: Ist mit dem „Autorenwillen“ die individuelle Absicht und Vision jener Person gemeint, die das Stück geschrieben hat, oder ist der Wille der Autor*in eine theoretische Größe, die anhand des Stücktexts konstruiert wird, welche der Autor*in selbst aber nicht unbedingt bewusst oder bekannt sein muss?
In der letzten Folge unseres Blogs behauptete ich, dass das Pendel der Aufführungspraxis unserer Klassiker seit der Jahrtausendwende stark zurückschwingt vom „Regiewillen“ in Richtung „Autorenwille“. Und selbst wenn der Autorenwille rätselhaft und noch dazu auch in der Theorie diffus bleibt, haben die Beobachter*innen doch eine Reihe von Indizien ausgemacht, an denen sich erkennen lässt, wann der Wille der Autor*in angeblich NICHT im Vordergrund steht: So bei der Missachtung von Szenenanweisungen Ort und Zeit der Stückhandlung betreffend. Klassiker, die von den Stückeschreibern im Dekor einer bestimmten Epoche angesiedelt wurden, werden (beispielsweise) in die Gegenwart verlegt. Prompt beschweren sich, typischerweise, die Vertreter*innen des Autorenwillens. Die Theaterpraktiker*innen wiederum würden nun, typischerweise, nicht etwa dagegenhalten, dass sich hier einmal die Koautor*innen aus der Produktion gegen den Willen des Textautoren durchgesetzt hätten, sondern würden (in den meisten Fällen) sagen, die kritisierte Regie-Entscheidung entspreche dem Autorenwillen in Wahrheit eher, als wenn man versucht hätte, die tote Konvention einer anderen Theaterepoche zu bedienen und das Stück textgetreu in der Zeit des (sagen wir mal) dritten Kreuzzugs im Hochmittelalter anzusiedeln. Dies Manöver wird natürlich möglich durch die oben schon erwähnte Unschärfe des Begriffes vom „Autorenwillen“. Vor allem aber wird auf diesem Weg die Diskussion Autor contra Regie geschickt umgangen, indem die Nichtbeachtung des Autorenwillens zur Achtung des Autorenwillens umdefiniert wird. Darüber lässt sich trefflich und ad infinitum streiten, ohne eine weitere Befragung des fragilen Gleichgewichts zwischen Regie und Text fürchten zu müssen. Als gelegentlicher Kunstgriff wäre das vielleicht verzeihlich, problematisch wird die Diskussionsvermeidung, wenn auf diesem Weg der Dialog zwischen Publikum und Produzent*innen, aber auch zwischen Theatern und Autor*innen nachhaltig beschnitten wird.
Auch aus diesem Grund – um den Dialog zwischen den Parteien etwas anzukurbeln – lasse ich die Differenzierungen und Unschärfen medientheoretischer Begriffe nun mal auf der Seite und gehe davon aus, jede Zuschauer*in sei selber kompetent und in der Lage festzustellen, wann die Theatermacher*innen eine Aufführung „im Sinne der Autor*in“ abgeliefert haben und wann nicht.
In einem Dialog mit ihrem Publikum, der innerhalb einer solchen Setzung stattfände, müssten die Theatermacher*innen vermutlich manchmal hinnehmen, dass sich Zuschauer*innen mehr Texttreue wünschen als ihnen geliefert wird. Womöglich würde allerdings an irgendeinem Punkt sogar zum Vorschein kommen, dass die Theaterleute hin und wieder Gründe haben, ihren eigenen Instinkten und Visionen einen Vorrang gegenüber denen einzuräumen, die sie bei der Analyse der Originaltexte als Absicht der Autor*in identifiziert haben, und dass diese Gründe über Desinteresse, Eitelkeit und Zeitgeistdenken hinausgehen können. (Und darum ist dieses Kapitel mit dem Namen unseres Überklassikers „Shakespeare“ überschrieben.)
Weiterhin ein kleines bisschen vereinfachend würde ich behaupten, dass es – alte Dramaturg*innenweisheit – Klassiker gibt, die Texttreue „belohnen“: Beispielsweise gibt es eine Reihe bürgerlicher Trauerspiele, in denen der Ehrbegriff des 18. Jahrhunderts eine dramaturgisch wichtige Funktion hat. Also immer dann, wenn junge Männer entweder sich selbst oder einander oder die Geliebte, oder Väter ihre Töchter oder Töchter sich selbst umbringen, „um die Ehre zu bewahren“. Selbst in Zeiten, in denen der Ehrenmord in Mitteleuropa wieder in Erscheinung tritt (grotesk genug), kommt eine Stadttheaterregisseur*in mit der Figurenpsychologie in Schwierigkeiten, wenn sie so ein Stück in eine Gesellschaft hineinverlegt, der dieses Ehrkonzept nicht mehr viel sagt. Insbesondere dann, wenn diese Ehre auch noch darauf beruht, dass ein offensichtliches Missverständnis der Beteiligten durch bloßes Drüber-Reden aus der Welt hätte geschafft werden können. Dann spricht die Stadttheaterdramaturg*in manches Mal zur Stadttheaterregisseur*in: „Lass es einfach. Spielt im 18. Jahrhundert, gut so.“ Eine andere Faustregel besagt, dass „fragile“ Texte von Theatermacher*innen mehr Gehorsam fordern als „robuste“. Aber heißt das umgekehrt auch, dass „robuste“ Texte mehr Widersetzlichkeit von den Theatermacher*innen fordern?
Wir haben schon umrissen, dass es Kennzeichen der „Werktreue“ bzw. Kennzeichen der „Werkungetreue“ gibt. Selten genug – mir persönlich ist es zweimal widerfahren – sieht man eine Aufführung von Shakespeares „Hamlet“, die – man traut sich kaum es auszusprechen – textgetreu daherkommt. Will sagen: das Stück spielt auf einer mittelalterlichen Burg in Dänemark, die Hauptfiguren tragen wandteppichartige Gewänder und so ähnliche Frisuren. Keiner der Beteiligten verzieht eine Miene, auch wenn das Verfahren spätestens im fünften Akt an seine Grenzen stößt, da ein mittelalterlicher Hamlet und sein mittelalterlicher Widersacher ein Gefecht nach den Duellregeln der Hochrenaissance austragen mit Waffen, die im mittelalterlichen Dänemark so viel zu suchen hatten wie eine vollautomatische Espressomaschine auf dem Bauernhof meines Urgoßvaters. (Aber wollen wir nicht mäkeln, Shakespeare war das offenbar egal.) Was beide Aufführungen signalisieren wollten, war, dass es sich hier um demütige, möglichst werkgetreue Annäherungen an Shakespeares Originaltext handelt, ohne Frechheiten und Eigenmächtigkeiten der Regie. Und in beiden Fällen war der Eindruck, den sie hinterließen, zutiefst widersprüchlich: einerseits wirkte das Verfahren verzagt, bescheiden bis zur Selbstverleugnung, andererseits größenwahnsinnig. Warum größenwahnsinnig? Die textgetreue Attitüde schien zu sagen: Das hier ist der ganze Shakespeare, was ihr hier nicht seht, das steht auch nicht im Text. Das ist naturgemäß die Harke, die jeder texttreu tuenden Inszenierungsarbeit innewohnt: Wer hinter der Autor*in in Deckung gehen will, muss zusehen, dass er liefert; also alles, was der Text auch an nicht-expliziten Inhalten enthält, das, was „zwischen den Zeilen steht“. Es reicht nicht, einfach alle Worte vollständig zu deklamieren, auch ihr Geist muss mit herüberkommen. Das gilt jedoch für textgetreue Inszenierungen von Aischylos bis Arthur Miller, dafür müsste ich nicht Shakespeare und das Stück der Stücke bemühen. Allerdings wirkt das Verfahren bei Shakespeares „Hamlet“ ganz besonders merkwürdig. Vermuten wir zurecht bei Lessings „Sara Sampson“ oder Feydeaus „Klotz am Bein“, dass es gar nicht einfach ist, auch die impliziten Inhalte und Forderungen an den Text befriedigend zu inszenieren, so ist dasselbe bei William Shakespeare oft geradezu unmöglich.
Lassen Sie mich heute noch einmal ein Beispiel aus der Welt der Religion verwenden: Jede Katholik*in kennt die liturgische Abfolge von Evangelium und Predigt, die sich häufig so abspielt dass zuerst ein berühmtes Bibelwort gelesen und danach ausgelegt wird. Meist stellt sich dabei heraus, dass das Bibelwort ohne Zusammenhang gar nicht verständlich ist, und dass es – in einen Zusammenhang gebracht – etwas ganz anderes sagt als das, wonach es sich beim ersten Anhören angehört hat. Und jetzt kommt der Clou: Kaum dass ein Jahr vergangen ist und dasselbe Bibelwort am selben Ort wieder gelesen wird, kommt ein anderer Priester, stellt das Wort erneut in einen Zusammenhang und nun soll es auf einmal weder das bedeuten, wonach es in den Ohren des Laien ursprünglich geklungen, noch das, was der Kollege letztes Jahr behauptet hat, sondern etwas Drittes. Die Erklärung ist allerdings nicht so schwer: Das Evangelium ist eben das Evangelium. Weil wir es seit hunderten von Jahren immer wieder lesen, hat es einen riesigen Gehalt von Deutungen und Inhalten gewissermaßen aufgesogen. Keine seriöse Theolog*in würde sagen, dass es möglich ist, die ursprüngliche Absicht der Autoren aus dem Berg von Deutungen zweifelsfrei herauszulesen. Das entspräche auch der religiösen Praxis nicht. Vielmehr haben Jahrhunderte von Predigern und Leser*innen den Text mitgeschrieben (siehe wiederum: multiple Autor*innenschaft). Wichtig dabei ist, dass es Stellen gibt, die nicht nur unterschiedliche Bedeutungen transportieren, sondern widersprüchliche. Was soviel heißt wie: man kann sie entweder so oder so lesen, die Leser*in kann sich allerdings nicht für alle Lesarten zugleich entscheiden, da diese einander widersprechen. Man könnte dann behaupten, eine „textgetreue“ Interpretation des Evangeliums – wenn es denn um mehr als um die wissenschaftliche Analyse gehen soll – ist hier nicht möglich. Und ebenso verhält es sich mit Shakespeare.
Shakespeare ist das Evangelium des europäischen Theaters, insbesondere des deutschsprachigen. Wir lesen seine Stücke seit Jahrhunderten wieder und wieder, über ihn selbst und seine Absichten wissen wir relativ wenig, seine Texte aber transportieren für uns Welten von Bedeutungen und Inhalten. Und vor allem: die Bedeutungen und Deutungen sind häufig widersprüchlich, einen Satz und eine Szene „Hamlets“ kann man daher auf eine „mögliche“ Weise spielen und interpretieren, auf keinen Fall jedoch wird es einer Schauspieler*in oder Regisseur*in gelingen, in einer Inszenierung alle oder auch nur einen großen Teil aller kanonischen Deutungen dieses einen Satzes oder dieser einen Szene abzubilden. Sie müssen sich also entscheiden. Shakespeare nimmt ihnen diese Entscheidung nicht ab. Ein wunderbarer Schauspieler, der leider verstorben ist, sagte einmal zu mir: „Wir können Shakespeare gar nicht lesen. Shakespeare liest in uns.“ Mit der oben stehenden Ausführung habe ich versucht, mir diesen Ausspruch zu erklären.
Shakespeare zeigt uns, dass wir ihm mit Werktreue nicht besonders nahe kommen, wir können uns nur selber näher kommen, wenn wir uns in Shakespeares Hände geben. Das muss nicht immer zu befriedigenden oder zu erbaulichen Ergebnissen führen. Unsere Welt ist leider aber auch nicht immer befriedigend oder erbaulich. Und Shakespeare ist – am Ende – dann doch nicht das Evangelium.
Damit mag einiges zum Thema Werktreue gesagt sein, weniges zu Shakespeare. Sie mögen mir verzeihen, dass ich seinen Namen etwas großkotzig als Überschrift zu dieser Episode benutzt habe.