13 | Das deutsche Stadttheatersystem

WasmachenDramaturg:innen?

Der Elefant im Raum, wann immer Menschen deutscher Muttersprache über das Theater diskutieren, ist ein Ding, das zwar in aller Munde ist, oft jedoch ohne, dass man genau weiß, warum eigentlich.

Auch in meinem Blog fand es des öfteren Erwähnung, dabei setzte ich es dann meist als bekannt voraus und machte, dass ich weiterkam: Die Rede ist vom Deutschen Stadttheatersystem. Was das in etwa ist (eine Menge von subventionierten Ensemble-Theatern im ganzen deutschsprachigen Raum) ist vielen Menschen klar. Auch, dass dies System aus irgendeinem Grunde auf der Welt irgendwie einzig ist. Und auch, warum es einzig ist (weil praktisch keine andere Kultur ein entsprechendes Netz so großer Theater unterhält). Aber warum ausgerechnet die deutschsprachigen Länder sich so viele Ensemblehäuser leisten, während das die anderen nicht tun, und inwiefern das ein System ist und nicht bloß ein Haufen von Theatern, und zuletzt: welche Auswirkungen dies System auf die Theaterlandschaft und deren Inhalte hat, ob sich diese deshalb spürbar von Theaterlandschaften und Inhalten in anderen Ländern unterscheiden – diese Fragen könnte ohne weiteres nicht einmal ich beantworten. Und damit können wir‘s für heute gerne lassen. Vielen Dank, dass Sie wieder vorbeigeschaut haben.

(Na gut. Das ist natürlich nicht die Idee von einem Blog, einfach nicht mehr weiterschreiben, wenn es kompliziert wird. Darum kurze Rauchpause, und dann gehen wir’s an:)

Warum gibt es in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz mehr subventionierte Theater als in Frankreich, England, USA, Italien usw.?

Alles beginnt in den deutschsprachigen Ländern (wie immer) mit der deutschen Kleinstaaterei, die – mit allen Umwälzungen, die der dreißigjährige Krieg oder Napoleon herbeiführten, – eine Kulturlandschaft mit vielen kleinen Hauptstädten und also: vielen Zentren produzierte. Alle diese Zentren waren naturgemäß Theaterstädte. Und darum war auch die Theaterdichte in den deutsch sprechenden Ländern, verglichen mit den großen Nationalstaaten wie Frankreich oder England, über einen großen Teil der Neuzeit hinweg ohnehin schon eher hoch. Insbesondere hinsichtlich der Hoftheater in den Residenzstädten, denn Residenzen gab es mehr und reichere als in den Nationalstaaten, die einfach eine Hauptstadt hatten, und damit basta. Und die Hoftheater, deren zahlreiche bis heute fortbestehen (wie das Münchner Residenztheater), sind immer noch das Rückgrat unserer Theaterlandschaft. Bis 1850 bestehen in den Grenzen des heutigen Deutschland 19 solcher Hofbühnen (heute spielen davon immerhin noch 14). Um die Hofbühnen herum existieren in den Residenzstädten natürlich alle möglichen anderen Theaterformen, vor allem Volkstheater, also kommerzielle Unternehmungen, die natürlich nie an die Budgets der Hofbühnen heranreichen. Aber auch in Städten, welche keine Residenzstädte sind, etablieren sich im 18. Jahrhundert bürgerlich getragene, das heißt: kommerziell betriebene feste Häuser. Im 19. Jahrhundert nimmt deren Zahl stetig zu, in der Zeit des Vormärz kommt der Begriff Stadttheater auf. (Die Rede ist noch immer von den deutschen Kleinstaaten. Wir kommen gleich dazu, was das mit Österreich zu tun hat.) 1836 zählt der Almanach für Freunde der Schauspielkunst im deutschen Staatenbund 37 etablierte bürgerliche Bühnen, zehn Jahre später bereits 133. Der Name Stadttheater ist aber durch kein Gesetz geschützt, die Theater, die sich diesen Titel geben, meinen damit ihren Anspruch in Bezug auf Bildung und Repräsentation des sie tragenden bürgerlichen Standes. Mehr oder weniger ausgesprochen setzen sie sich damit ins Verhältnis zu dem (anders gelagerten) Repräsentationsanspruch der Hoftheater, sie begeben sich in eine Art Opposition zu diesem. Finanziell werden die Stadttheater allerdings nicht öffentlich getragen. Ab der deutschen Reichsgründung 1871 bauen Städte und Gemeinden – nun im Gründungsrausch – immerhin im ganzen Land Theaterbauten, die sie den Theatermachern günstig zur Verfügung stellen. 1914 weiß Das kommunale Jahrbuch im Deutschen Reich von 196 Stadttheatern. Dazu kommen noch einmal ebenso viele Privattheater. Aber erst in der Weimarer Republik, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, beginnen Länder und Kommunen die Trägerschaften der Theaterunternehmen flächendeckend zu übernehmen. Ein Programm, welches im Dritten Reich vollendet wird. (Aha!) Ab dem Zusammenbruch des Kaiserreichs verschwindet auch der inhaltliche Unterschied zwischen Hof- und Stadttheater, die Hoftheater heißen nun in Deutschland „Staatstheater“ und gehen mehr oder weniger im Stadttheatersystem auf. Nur ihre Subventionen bleiben manchmal deutlich höher als jene der Stadttheater. Die österreichischen Landestheater (je eines pro Landeshauptstadt) waren entweder immer schon Teil des k.u.k. Hoftheatersystems, dessen Zentrum das Theater nebst der Wiener Hofburg bildete, oder sie unterstanden ursprünglich den Landständen (wie in Linz, Graz, Klagenfurt). Dabei lässt sich von heute aus keine den deutschen Verhältnissen entsprechende politische Polarisierung zwischen Hoftheatern und Landständischen Bühnen mehr erkennen. Ab dem Zusammenbruch des Kaiserreiches setzt auch hier für beide Sorten die „Verbürgerlichung“ ein. Die Verstaatlichung hatte (mindestens de facto) schon unter dem Kaiser stattgefunden. Ansonsten ändert sich strukturell erst einmal nicht so viel. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland sind die Stadttheater nun (zu denen ich in Österreich auch die Landestheater zähle) von den Privattheatern deutlich abgegrenzt, insbesondere durch die staatliche bzw. kommunale Subvention. Und sogar in der Schweiz werden im Lauf des 20. Jahrhunderts die Subventionen einzelner großer Bühnen (die hier von der Rechtsform aber weiter auf privaten Füßen stehen) so weit erhöht, dass sie de facto deutschen Stadttheatern gleichkommen.

Ein entscheidender Faktor für den Reichtum der Theaterlandschaft der drei Länder Deutschland, Österreich und Schweiz sind also die Subventionen aus öffentlicher Hand und die Tatsache, dass sich dies System von Subventionen etabliert, ehe ab der Mitte des 20. Jahrhunderts ein weltweites, wenn zunächst auch schleichendes, Theatersterben einsetzt. Radio, Kino, Fernsehen treten als Massenmedien neben die Theater und berauben sie des Publikums. Wer sich gründerzeitliche Theaterbauten (wie das Wiener Volkstheater) anschaut, deren Säle ursprünglich weit über 1000 Zuschauer gefasst haben (und deren Fassungsvermögen seitdem künstlich verkleinert wurden), der bekommt noch eine Ahnung von der Zeit, als Theater das einzige erzählerische Massenmedium neben dem Buchdruck und dem Fortsetzungsroman in der Zeitung war. Insbesondere die kommerziellen, die privaten Bühnen fallen dem Theatertod zum Opfer. Sie verschwinden massenhaft oder verkleinern sich zu Ateliertheatern. Private Musical- und Operettenhäuser widerstehen. Und: Das deutsche (österreichische) Stadttheater widersteht. Aufgrund der rechtzeitig verankerten Subventionskultur.

Noch heute existieren allein in Deutschland 150 öffentlich getragene Theaterunternehmen, darüber hinaus noch 150 Bauten ohne eigene Ensembles, die von öffentlichem Geld mit Gastspielen bespielt werden. Dem gegenüber finden wir in anderen europäischen Nationen (mit Ausnahme von Ungarn) Theaterlandschaften, die vor allem auf ein Zentrum, also auf die Hauptstädte, ausgerichtet sind. Denn in den frühen Nationalstaaten ohne kleinstaatlichen Flickenteppich gab es, siehe oben, eben eine Hauptstadt. Darum haben diese Länder heute eine Theatermetropole und kein entsprechend starkes Netz von provinziellen Häusern drum herum. Verstärkt wird der Effekt noch dadurch, dass in den Hauptstädten auch Film- und Fernsehproduktionen sitzen, so dass auch die Schauspieler, die keine länger laufenden Verträge an Theatern haben, sich an diesen Orten konzentrieren. Das heißt, auch Off-Theater und Privattheater siedeln sich vor allem in den Hauptstädten an, denn da sind auch die Schauspieler.

Ist dies schon Wahnsinn, hat es doch Methode.

So kommt es also, dass drei deutschsprachige Länder Stadt- und Staatstheater haben. Diese unterliegen national gleichartigen, mindestens legal gleichartigen Standards. Hinzu kommen Dachverbände (wie der deutsche Bühnenverein) und Musterverträge, die die Arbeitsverhältnisse regeln, wie der Normalvertrag Solo in Deutschland und der Kollektivvertrag in Österreich. (Erkläre ich eines Tages gerne mal.) Alleine diese Standards rechtfertigen die Bezeichnung der Theater als System. Davon abgesehen stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass es von Theater zu Theater große Unterschiede in praktisch allen Dingen und Strukturen gibt. Stadttheater ist nicht gleich Stadttheater. Und erst recht zeigen sich Unterschiede zwischen den Verhältnissen in den drei deutschsprachigen Ländern. Allerdings gibt es – selbst hinweg über die Ländergrenzen – auch zahlreiche andere Zusammenhänge zwischen den Theatern. So starke Zusammenhänge, dass ich sagen würde, dass das Deutsche Stadttheatersystem ein Deutschland, Österreich und der Schweiz gemeinsames Phänomen ist. Worin aber bestehen diese Zusammenhänge, die mehr als nur gemeinsame Vertragsformen oder Vereine sind?

(Hier machen wir jetzt nochmal eine Rauchpause.)

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