Ein Blick, ganz offenbar, in eine andere Zeit. Und um ein Theater leer spielen zu können, muss es erst mal voll sein. Diese schlichte Schlussfolgerung stößt uns aber auf noch weitere große Differenzen zwischen den Theaterlandschaften von 1970 und 2020. – Neunzehnhundertsiebzig! Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung. Das Sprechtheater gehört in der deutschen Bundesrepublik, genauso wie in Österreich, zum Staatskultus der bürgerlichen Klasse. Die riesigen, nach dem Krieg neu oder wieder aufgebauten Häuser sind gut besucht und häufig voller Abonennt*innen. Der politische Diskurs findet nicht nur in den Universitäten oder im Suhrkamp Verlag oder im Frankfurter Institut für Sozialforschung, sondern natürlich auf den Bühnen der Stadt- und Staatstheater statt. Beschwert sich irgendjemand, dass das deutschsprachige Theater politisiert und überfrachtet ist? Nun, natürlich schon. Das deutsche Sprechtheater war aber schon immer überfrachtet und politisiert, das ist ja gerade sein Vermächtnis. Reines Unterhaltungstheater ist – im deutschsprachigen Raum – seit je ein Metropolenphänomen. Und Metropolen gibt’s da ohnehin, wenn überhaupt, nur zwei. Außerhalb Berlins und Wiens wird das Theater traditionell als moralische Anstalt betrachtet. (Woran unter anderem Lessing, Schiller, Goethe (der vielleicht am wenigsten) schuld sind.) Und das ist natürlich auch den Kräften der politischen Umerziehung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht entgangen: Dass man die Deutschen auch auf dem Altar des Stadttheaters an die Kandare nehmen kann (und muss) – wenn sie dafür ihre alten Schauspieler und ihre alten Klassiker und ihre alten Regisseure – und seien diese noch so sehr kontaminiert – wieder im Rampenlicht erblicken dürfen. Darum führt dieses Theater in den Aufbaujahren auch die zauberhaftesten politischen Eiertänze auf, wenn es darum geht, das Kind beim Namen zu nennen. Man führe sich nur wieder einmal solche Flaggschiffe der Vergangenheitsbewältigung wie Zuckmayers „Des Teufels General“ in all ihrer Verschwampftheit zu Gemüt. Da versteht man heute schwerlich irgendwas, aber damals konnte jeder sich verstanden fühlen. Natürlich war das Stück ein Riesenhit in Nachkriegsdeutschland. Moderate Formen der Verarbeitung von Fragen der Verantwortung und Mitschuld (Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch) waren grundsätzlich mehrheitsfähig. Insbesondere, solange sie im Ungefähren ließen, ob der Einzelne in der Moderne überhaupt moralisches Subjekt sein konnte oder doch bloß Spielball der Geschichte. (Will heißen: Bitte keinen Brecht. Brecht nicht. Keinen Bolschewismus.) Also ja: Es wird gemurrt über die Politisierung des Theaters, aber mehr über die Inhalte dieser Politisierung als über die Tatsache an sich. Und dann die neue Zeit, wer wollte da schon offen sagen, dass ihm Lessing eigentlich schon immer auf die Nerven ging. Das Publikum war jedenfalls grundsätzlich da. Man war ja wieder wer. Ging ins Stadttheater. Sehen und gesehen werden. Und die Schauspieler.
Gerade dieser zu Beginn der 70er aber noch unerschütterliche Publikumszuspruch stellt einen Faktor dar. Stellen wir uns ein kinetisches Modell vor, in dem Kräfte wirken zwischen Publikum und Bühne, Bühne und Kulturpolitik, Politik und Feuilleton, Feuilleton und Publikum. Da sich die Theater und die Politik (und schon erst recht das Feuilleton) nicht groß darum bekümmern mussten, ob die Leute ins Theater gehen oder nicht, konnten sie sich anderen Fragen widmen als die nämlichen Instanzen sich dieses in Zeiten schwächeren Publikumszustromes leisten können. Insbesondere konnten sie sich darauf konzentrieren, wie ihr Publikum beeinflusst, oder sagen wir: erzogen werden sollte. Und sie konnten in der Sache größere Konflikte in Kauf nehmen.
Heute wäre das ein eingespielter Mechanismus: Das Theater muss zusehen, dass die Leute kommen, das Feuilleton kann es dabei unterstützen oder nicht, je nachdem, ob es die Mittel des Theaters zur Publikumsbeschaffung für angemessen hält. Ist ein Theater ausreichend besucht und die Kritik gibt gute Noten, sind auch die Kulturpolitiker*innen zufrieden und verlängern die Verträge der verantwortlichen Künstler*innen. Für unsere Zeit typisch ist, dass Publikumserfolg und gute Presse stark zusammengehen. Ohne Zustimmung des Feuilletons bleiben auch die Leute aus, umgekehrt würde das Feuilleton kaum ein florierendes Theater grundsätzlich missachten. Publikumszuspruch erzeugt auch eine Art von Relevanz. Und da der, siehe oben, ohne Zustimmung der Presse ohnehin nicht denkbar ist, muss sich diese auch nicht untreu werden.
Anders in den 70ern, als es zum Kolorit gehört, dass, wenn sich das Publikum mit Grausen wendet, es in hellen Scharen aus Premieren rausrennt, die Presse gern begeistert ist. Damit nicht genug: die Politik besitzt auch noch den Mut, die Störenfriede der Regie – auf Empfehlung aus den Feuilletons – zu Intendant*innen zu küren (siehe Heyme, Zadek, Neuenfels, usw.). Bald wird es zum Qualitätsmerkmal für Regisseur*innen, Säle leerzuspielen. Nicht unbedingt mit jeder Inszenierung, aber ein- oder zweimal im Jahr darf es schon sein. Und um dann auch kein Risiko einzugehen, setzt man zur Sicherheit auf bewährte Schockmethoden. In derselben Zeit entsteht in manchen Theatern das Bild des Abonnenten als Feind der Kunst. Konsequenterweise lösen Intendanten wie der schon erwähnte Hansgünther Heyme ihre Abosysteme gleich ganz auf. Und auch das kostet sie keineswegs den Job.
Denn neben der Verlässlichkeit des Theaterpublikums spielt noch ein weiterer Faktor eine Rolle, von dem heutige Theatermacher*innen nur noch träumen können: Das wieder aufgebaute Westdeutschland hat ein Wirtschaftswunder hinter sich und durchlebt bis 1974 eine Phase der Hochkonjunktur. Was bedeutet: Auch die Steuergelder sind vorhanden.
Notwendigkeit zur Neuausrichtung einerseits, inhaltlicher ebenso wie finanzieller Spielraum andererseits öffnen allerdings ein Fenster der Gelegenheit, das in den 70ern weit offensteht. Und was zu dem hereinkommt, ist bis heute als „das deutsche Regietheater“ (international) bekannt.